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Verpißt und Entführt

■ Über Kindsentführung vergeblich zu Gericht gesessen

Dem Bremer Organ der Rechtspflege Dieter Nordhausen ist in seiner Richterkarriere ja schon allerhand passiert. Am Anfang eines Verfahrens erschienen Angeklagte erst gar nicht, am Ende eines Verfahrens verließen Angeklagte während der Urteilsbegründung unter Protest den Gerichtssaal, um sich Nordhausens „Schwachsinn“ nicht mehr anhören zu müssen. Daß sich ein Angeklagter im Wortsinne aus seiner Verhandlung „verpißte“, ist Dieter Nordhausen allerdings noch nie passiert.

Gestern morgen, Punkt 8.30 Uhr, Amtsgericht, Saal 551 war es soweit. Geduldig läßt sich der 35jährige Angeklagte Celal D., der für den Prozeß eigens aus der Türkei angereist ist, von den Justizwachtmeistern durchsuchen, ehe er neben seinem Verteidiger auf der Anklagebank Platz nimmt. Richter Nordhausen will die Verhandlung gerade eröffnen, als Celal D. plötzlich ein sehr menschliches Bedürfnis geltend macht und um kurzen Aufschub nachzusucht. Das Gericht sieht weder Grund, D.'s Bitte abschlägig zu bescheiden, noch Veranlassung, ihn auf seinem Gang zu den einschlägigen Gerichtslokalitäten von Sicherheitskräften eskortieren zu lassen. Erst nach einer Viertelstunde kommen dem Gericht ernste Bedenken: Nach menschlichem und pflichtgemäßem Ermessen kann...

Nein, kann wirklich nicht, wie die eiligst zur Toilettenvisitation abkommandierten Polizeibeamten nach heftiger, aber erfolgloser Suche dem verdutzten Gericht achselzuckend vermelden. Nach weiteren 15 Minuten, in denen sich Richter, Dolmetscher, Zeugen, Fotografen und Beleuchter zwischen Ratlosigkeit und Amüsement in den Gerichtsfluren drängeln, reportiert einer der Beamten kurz und knapp: „W. -E.-C.-H. Wech is er!“ Statt einer Toilette hat Celal D. daran besteht jetzt kein Zweifel mehr - das Weite gesucht. Das Gericht beschloß darauf, Celal D. suchen zu lassen. Per Haftbefehl.

Weit weniger komisch als D.'s gestriger Auftritt vor Gericht war allerdings die Geschichte der Anklage gegen ihn. „Kindsentziehung“ wirft die Staatsanwaltschaft dem 35jährigen vor. Vor gut einem Jahr soll D. seinen eigenen Sohn entführt und ohne Wissen der Mutter in die Türkei verschleppt haben. Seitdem kämpft die 34-jährige Renate M., die das

alleinige Sorgerecht für den unehelich geborenen Jungen besitzt, darum, ihren Jungen wiederzubekommen. Bislang erfolglos. In Izmir, wo der jetzt fünf Jahre alte Kaan bei seiner Großmutter lebt, hat Celal D. seinerseits einen Prozeß gegen seine ehemalige Lebensgefährtin angestrengt, um als alleiniger Erziehungsberechtigter anerkannt zu werden.

Der Streit um das Sorgerecht vor den türkischen Gerichten war bislang die einzige Gelegenheit für Renate M., ihren Sohn seit seiner Entführung kurz wiederzusehen. Eine Stunde durfte sie mit ihm in der Zelle einer türkischen Polizeikaserne sprechen - bewacht von schwerbewaffneten

Polizisten. Renate M. gestern auf den Fluren des Bremer Amtsgerichts: „Es war schrecklich. Ich habe meinen Jungen kaum wiedererkannt. Er sprach nur noch türkisch und sah blaß und völlig verhärmt aus.“ In türkischen Zeitungen hatte der Vater stolz verkündet: „Ich werde meinen Sohn den Deutschen nie wieder überlassen. Ich werde aus ihm einen richtigen Türken und gläubigen Moslem machen.“

Der Prozeß in der Türkei wird im September fortgesetzt. Ob bis dahin auch in Bremen verhandelt wird, ist offen. Zunächst muß Celal D. gefunden und seiner Notdurft Genüge getan werden.

K.S.

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