: Warum Gorbacev ein Leninist ist
■ Der Historiker Reiman stellt die Frage, inwieweit die UdSSR zu den Zielen der Russischen Revolution 1917 zurückkehrt
Mit Michal Reimans Buch Lenin, Stalin, Gorbacev liegt die erste und nach meiner Kenntnis bislang einzige Darstellung vor, die Gorbacev - wie Reiman den Parteisekretär in Anlehnung an die russische Schreibweise nennt - im Gesamtrahmen der sowjetischen Geschichte sieht, also Kontinuitäten und Widersprüche aufzuspüren sucht zwischen den verschiedenen, mit den Namen der jeweiligen Parteiführer verbundenen Epochen.
Besonderen Reiz und intellektuelle Spannkraft bezieht dieses Buch unter anderem daraus, daß ein Schwerpunkt auf der Darstellung der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) und auf Bucharin liegt. Sowohl NÖP als auch Bucharin sind ein wichtiger Bezugspunkt für die Gorbacevschen Reformen und haben in jüngster Vergangenheit in der Sowjetunion eine beachtliche Aufwertung erfahren.
Michal Reiman ist in der Tschechoslowakei geboren und studierte in den 50er Jahren in Moskau. Als Mitarbeiter verschiedener Kommissionen war er aktiv an der Vorbereitung und Durchsetzung des „Prager Frühlings“ beteiligt. Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 wurde er seiner Stellen enthoben und hatte Publikationsverbot.
Die in sich geschlossenen Kapitel sind teilweise bereits in anderer Form und Fassung im Ausland - Frankreich, Italien, Jugoslawien - oder in deutschsprachigen Zeitschriften erschienen. Ergänzt wird das Buch durch ein Verzeichnis der Mitglieder der Parteitage nach der Revolution. Daran lassen sich der rasche Aufstieg und die Machtkonzentration Stalins in eindrucksvoller Weise ablesen.
Eine zum Mißverständnis neigende Vereinfachung besteht in der Bewertung der Oktoberrevolution als einer „plebejischen Revolution“. Sicher ist dieser Begriff gerade aufgrund seiner Verallgemeinerung präziser als offizielle und dogmatische Darstellungen, die von einer „Revolution des Proletariats“ sprechen, das 1917 mit circa vier Millionen Industriearbeitern nur einen äußerst geringen Anteil an der damaligen Bevölkerung stellte.
Zum anderen kann die Russische Revolution aber auch nicht allein auf die entschlossene Handlungsweise einer kleine, gut organisierten Kaderpartei zurückgeführt werden. Vielmehr war sie das Resultat eines langandauernden revolutionären Prozesses, der 1905 begann und in den 20ern nach Lenins Tod und mit dem Beginn des Stalinismus einen Abschluß fand. Der Kampf der verschiedenen Gruppierungen unterschiedlichen Charakters von teils offen sozialrevolutionären und militanten, über sozialistisch und demokratisch bis hin zu bürgerlich-republikanisch orientierten Strömungen fand sein Ende, als die am offensivsten agierende Partei, die bolschewistische, daraus siegreich hervorging.
Reimans Buch kann und will natürlich aufgrund der enormen Zeitspanne des Themas die zahlreichen Einzeldarstellungen zu den jeweiligen Spezialaspekten der Geschichte der UdSSR nicht ersetzen. Aber gerade in der Kürze der Kapitel und des Gesamtumfangs liegt ein unermeßlicher Vorteil des Buches. Es liest sich als Überblickdarstellung für Sachkundige ebenso spannend wie für mit der Thematik noch wenig Vertraute. Dem einen bietet es eine gute Einführug und Anregung, dem anderen Ergänzung und eine Sicht auf den Zusammenhang der Dinge.
Stephan Käppler
Michal Reiman: „Lenin, Stalin, Gorbacev. Kontinuität und Brüche in der sowjetischen Geschichte“, Junius-Verlag 1987, 188 S., 27 DM
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