„Gott der Rache und Vergeltung, zeige Dich“

In DDR-Kirchen wird getrommelt und gefastet für China / 1.300 Menschen beim Gottesdienst in der Ostberliner Samariter-Kirche / Harsche Kritik an der Chinaberichterstattung / Staatsgewalt verhängt Ordnungsstrafen  ■  Aus Ost-Berlin Petra Holstein

Auf dem abgeschabten roten Teppich vor dem Altar übt ein kleines Mädchen die Kunst des Radschlagens. Immer wieder kommt sie dem Mann auf dem runden Podest gefährlich nahe. Vor einem Transparent mit den chinesischen Schriftzeichen „Demokratie“ sitzend, schlägt der Mann die Trommel. Einförmig und dumpf hallt das „Bumm, bumm, bumm“ durch den Raum - seit 72 Stunden. Auf der Packpapierliste am Eingang stehen 140 Namen von Menschen, die sich seit Sonntag abend in der Ostberliner Erlöser-Kirche an dem Instrument abwechselten.

Auf ein Schild ist der Zweck des dreitägigen Trommelfastens gekritzelt: Die Aktion „ist ein Zeichen unserer Klage zu Gott und eine Mahnung an alle Menschen. Wieder einmal hat sich gezeigt, daß militärische Gewaltanwendung nur Tote und Leid bringt“. Bekanntlich sieht die DDR-Staatsgewalt das anders. Spätestens seit dem Massaker von Peking betätigt sie sich leidenschaftlich als Bauchredner der Machthaber in China. Wer dagegen protestiert, landet mindestens mit einem Porträtfoto in der Stasi-Kartei - vor der Erlöser-Kirche wagte niemand, den dreisten Fotografen anzusprechen - oder er muß mit Vopo-Prügeln und Ordnungsstrafen bis zu 500 Ostmark rechnen, wie letzte Woche 43 Demonstranten vor der chinesischen Botschaft. Trotzdem hat sich in der DDR eine Solidaritätsbewegung entwickelt, die herbe Kritik an den Ost -Berliner Kollaborateuren übt. So auch bei dem Gottesdienst „China im Juni 1989“ in der Samariter-Kirche von Pfarrer Eppelmann am Mittwoch abend.

In den Seitenstraßen parken Polizei- oder Armee-LKWs. Nachbarn der Kirche liegen in den Fenstern, beäugen die heranströmenden Menschen. Drinnen stehen und sitzen 1.300 Leute dicht gedrängt. Der von drei Pfarrern und einem Katecheten gestaltete „Meditationsteil“ kann beginnen. Abwechselnd tragen sie ein Chronologie über den „Kampf für ein Ende der Diktatur“ vor. Kommentarlos setzen die Stimmen Zitate aus dem FDJ-Organ 'Junge Welt‘ gegen Berichte aus der 'Prawda‘ und der 'Budapester Rundschau‘ gegeneinander. Propaganda versus zurückhaltende Wahrheitssuche. Auf die FDJ -Sätze reagiert das Publikum mit vereinzeltem, kaum hörbarem Zischen. Doch die Stille bleibt gewahrt, jeder Nachbar könnte ein Spitzel sein. Regungslos lauscht die Menge dem Resümee: „Die Medien der DDR sind nicht willens, über die Vorgänge in China wahrheitsgemäß zu berichten. Gerät diese Haltung nicht in die Nähe derer, die wie Thatcher und Bush weiterhin Geschäfte mit China machen wollen?“ Mit den Worten von Ernesto Cardenal bittet eine Pastorin: „Gott der Rache und Vergeltung zeige Dich.“ Während des Vaterunsers drängelt sich plötzlich ein blonder Punk durch den Gang zum Mikro: „Ich komm gerade von der Vollversammlung der Kirche von unten. Wir finden, jetzt muß in der ganzen DDR weitergetrommelt werden, und schlagen vor, das hier bis Sonntag fortzusetzen.“ Verdutzte Blicke, auf soviel Spontaneität ist die Versammlung nicht eingestellt. Aber die offizielle Kirche hatte offenbar eine ähnliche Idee. Ein Pfarrer: „Die Trommel ist als Stafette schon weitergegeben an die Erlöser-Kirche in Potsdam. Dort wird die Aktion bis Sonntag fortgeführt.“

Programmgemäß endet der Gottesdienst mit dem Verlesen eines Briefes an „Freunde in der Volksrepublik China“. Darin heißt es: „Wir wissen, daß die Gewalt nicht von Euch ausgegangen ist und daß auf friedliche Bürger geschossen wurde. (...) Seid gewiß, daß es auch in der DDR viele Menschen gibt, die mit Euch trauern, Euren Zorn und Eure Angst teilen - aber auch die Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus“. Am Tisch, wo der Brief unterzeichnet werden kann, stauen sich die Kirchgänger. Reißenden Absatz finden Aufkleber mit den chinesischen Schriftzeichen „Demokratie“. Hunderte wollen die Wandtafeln mit Artikeln aus den DDR-Blättern, 'Prawda‘, 'Spiegel‘ und taz lesen.

Auf den Bürgersteigen vor der Kirche herrscht noch lange dichtes Gewühl und Flüsterton. Strengen Blickes fixieren die Vopos jeden, der ihnen nahekommt. Gestikulierend redet ein Rechtsanwalt auf einen dicken Oberstleutnant ein, der kurz zuvor ein Auto konfisziert hatte. In dem PKW war die Trommel transportiert worden. Seinem Fahrer wurden irgendwelche Paragraphen entgegengeschleudert. „Den haben sie sowieso auf dem Kieker, aber die Trommel haben sie uns nicht klauen können“, wispert ein Freund.