Der trügerische Schein der Normalisierung

■ In Peking haben die ideologischen Kampagnen begonnen / Passiver Widerstand an den Universitäten

Für Chinas Regierung kommen aus dem Ausland nur „anmaßende Anklagen“ - so der gestrige Kommentar des chinesischen Außenministeriums zur Erklärung der EG-Gipfelkonferenz. Auf China könne kein Druck ausgeübt werden - eine Anspielung auf die Stornierung internationaler Kredite. Um die Geldknappheit zu mildern, will die Regierung jetzt Zwangsanleihen bei ihren eigenen Bürgern auf legen. - Im US-Repräsentantenhaus einigten sich die Parteien derweil auf einen Sanktionskompromiß: „Polizeiverwertbare Waffen“ sollen nicht mehr exportiert werden dürfen, die Ausfuhr von High-Tech und atomarem Material soll „beschränkt“ werden, was immer das heißt. - Amnesty international vermutet, daß noch Hunderte von Chinesen hingerichtet werden sollen. Die Erfahrung der Jahre 1983 bis 1987 lasse jedenfalls weit Schlimmeres befürchten als die bislang 33 offiziellen Erschießungen der letzten Woche: Damals wurden rund 30.000 Gefangene hingerichtet.

Die meisten Bürger reagierten nur noch mit Desinteresse auf die Aufzeichnung der Rede Deng Xiaopings vom 9.Juli, die das Staatsfernsehen am Mittwoch erstmals in voller Länge ausstrahlte. Der Wortlaut war längst bekannt, und Ausschnitte der Aufzeichnung, die einen überraschend lebendigen Deng zeigten, umrahmt von eifrig mitschreibenden Generälen, waren schon am 9.Juni über die Bildschirme geflimmert.

„Wiederholung macht es nicht besser“, kommentiert der Blockwart an der Universität, der gerade mitguckt. Nur ganz allmählich kehren in Peking die StudentInnen an ihre Universitäten zurück. Während auf Anweisung des Erziehungsministeriums im ganzen Land die Hochschulen längst wieder den Lehrbetrieb aufgenommen haben, um auf Biegen und Brechen die Semesterprüfungen durchzuziehen, gibt es an den großen Pekinger Unis auch Wochen nach der gewaltsamen „Befriedung“ keine Chance, den Unterricht wieder aufzunehmen. In den meisten der sonst mit 700 StudentInnen belegten Wohnblocks halten sich ganze 20 bis 30 Personen auf. Sie müssen sich wohl oder übel auf die in die Sommerferien verlegten Prüfungen vorbereiten oder ihre Examensarbeiten schreiben.

Zwei Wochen früher als geplant wird das neue Semester Mitte August beginnen, nach Hause gefahrenen StudentInnen werden von der Unileitung brieflich zurückbeordert. Die Atmosphäre an den immer noch halbleeren Hochschulen ist nach all den tragischen Ereignissen gedrückt. Die Wohnheime werden von Torhütern einzeln überwacht, ein Zutritt ist für Besucher nur mit Registrierung und der Angabe von Gründen möglich. Chinesen ist der Zutritt zum Ausländerwohnheim verboten, Ausländer werden aber nicht gehindert, mit ihren chinesischen Kommilitonen oder Lehrern Kontakte zu pflegen. Obwohl die Razzien in den Wohnheimen beendet wurden und sich die Zahl der „unauffälligen“ Spitzel verringert hat, werden Diskussionen nach wie vor nur hinter verschlossenen Türen geführt.

18jährige StudentInnen, einst als Zukunft Chinas gepriesen, sagen aber ganz offen auf dem Campus, daß sie für sich und die politische Entwicklung keine Hoffnung mehr sehen.

Zur Nachrichtensendung wird vielerorts der Fernseher erst gar nicht mehr eingeschaltet, die stereotypen Jubelberichte und Lügen verursachen bei den meisten nur Übelkeit. Im Untergrund geht die politische Arbeit weiter, StudentInnen sammeln heimlich Flugblätter, Fotos und Tonbandaufnahmen oder organisieren ein Hilfsnetz für untergetauchte AktivistInnen.

Für diejenigen, die ihre Wut abreagieren müssen, sind anonyme Telefonanrufe bei Parteisekretären oder den Polizeibehörden ein verbreitetes Mittel. „Es nützt zwar nichts, aber ich fühle mich besser, wenn ich den Kader des reaktionären Unirundfunks anrufe und ihn frage, ob er den Verstand verloren hat“, meint ein Student. Außerhalb der Studentenschaft gibt es vielfältige Formen des Widerstands aus dem Untergrund heraus: Bummelstreik, Betriebssabotage, aber auch Anschläge. In Schanghai explodierte plötzlich eine Bombe im Zug, in Peking wurde aus einem verdeckten Lastwagen heraus auf die Armee geschossen - der Fahrer ist verhaftet, die Schützen konnten entkommen. Zwei Polizisten sind von Unbekannten auf offener Straße überwältigt und entführt worden. Die Aktionen sind aber zu vereinzelt, als daß man bereits von einer Stadtguerilla sprechen könnte.

Propagandamaschine kommt ins Rollen

Die Professoren sind zum Hauptobjekt der neuen politischen Erziehungskampagne geworden, sie sollen schließlich die Aufgabe übernehmen, die Ausbildung wieder stärker an den „vier Grundprinzipien“ auszurichten. Eine Fakultät nach der anderen beruft ihre DozentInnen zu „Studienversammlungen“ ein, auf denen der Parteisekretär der Universität aus den Reden Dengs liest.

An der Peking-Uni sah eine solche Sitzung im Fachbereich Politik zum Beispiel so aus: Höchstens die Hälfte der DozentInnen war erschienen, an der „Diskussion“ beteiligten sich nur wenige, und das nur lustlos. „Eine Frechheit, von uns Profs zu verlangen, diesen Unsinn zu studieren und auch noch an unsere Studenten weiterzugeben“, empörte sich hinterher ein Lehrer im Vertrauen, „hätte ich mich doch krankgemeldet.“

Neues politisches Unterrichtsmaterial wird vom Propagandaministerium in großen Mengen angeliefert, damit alle die „Erfahrungen aus der Konterrevolution ziehen“ können. Kaum eine Intellektuelle, ein Intellektueller, die nicht an Ausreise denken.

Unmittelbar nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung hatten sich lange Schlangen vor den ausländischen Botschaften gebildet, seitdem ist die Regierung immer restriktiver mit Ausreisegenehmigungen. Erst muß ein Paß beantragt werden, dann die erste Ausreisekarte, zuletzt nach dem Erhalt des Visums noch eine zweite Ausreisekarte. An jeder Stelle dieser Kette können die Behörden willkürlich eingreifen, verzögern, auf unbestimmte Zeit verschieben oder die Genehmigung ganz verweigern.

Gestern erzählte ein verzweifelter Student an der Peking -Uni, er habe jahrelang für seine Ausreise gearbeitet, habe Paß, das Visum der USA und sogar einen Studienplatz an einer amerikanischen Universität, erhalte aber keine Ausreisekarte. „Man hat mir nicht gesagt, wann und ob ich die Genehmigung bekomme. Ich fürchte, alles war umsonst.“

Schikane der BRD

Trotz des Ausnahmezustands haben die bundesdeutschen Behörden nicht das Geringste unternommen, die Antragsfristen für ein Visum zu verkürzen und das Verfahren zu entbürokratisieren. Uneinsichtige Stadtverwaltungen erschweren durch schikanöse Auflagen die Einreise. Dabei tut sich besonders die Stadt München hervor, die Bewerber auch dann noch zu einem Prüfungsgespräch in die Botschaft in Peking bestellt wissen möchte, wenn sie 3.000 Kilometer von der Hauptstadt entfernt in der Provinz leben.

Die Ankündigung der japanischen Regierung und der Weltbank, die geplanten Neukredite in Höhe von mehreren 100 Millionen Dollar vorerst nicht auszuzahlen, hat die chinesische Regierung zu drastischen Maßnahmen veranlaßt. „China läßt sich nicht vom Ausland unter Druck setzen“, wiederholt Premier Li Peng fast täglich und zieht statt dessen seinen Bürgern das Geld aus der Tasche. Am 1.Juli werden Milliarden -Staatsanleihen unters Volk gestreut. Der Einfachheit halber zieht man den Kaufpreis direkt vom Lohn jedes Werktätigen bei seiner staatlichen „Einheit“ (vom Unternehmen bis zum Kammerorchester) ab.

Drei Jahre später nimmt der Staat zwar die Schuldscheine zurück, aber bis dahin hat die Inflation den Wert längst aufgefressen, außerdem ist die Rückgabe nicht so einfach: Irgendwann werden in der Zeitung per Bleiwüste die Seriennummern der Anleihen, die der Staat zurücknehmen will, abgedruckt. Wer dann nicht flink vergleicht, geht zum Stichtag leer aus.

„Eine extra Lohneinbuße für alle“, bemerkt eine chinesische Arbeiterin aus meinem Bekanntenkreis, „dabei reicht der Lohn doch auch so hinten und vorne nicht. Die kleinste Anleihe hat einen Nennwert von 20 Yuan, das ist ein Fünftel meines Monatslohns.“

P.Schmidt