: Stadtführer für Behinderte
■ 1.127 Bremer Gebäude wurden unter die Lupe genommen: noch immer wenig behindertengerecht
Der Verkehrsknotenpunkt Domshof ist für Behinderte im Rollstuhl wegen seiner zahlreichen Stufen nicht ohne fremde Hilfe passierbar. Ausstellungen in der Villa Ichon, Kneipenbesuche im Lagerhaus: steile Treppen, schmale Türen und fehlende Toiletten sperren Behinderte von der Teilnahme aus. Supermärkte pflanzen Sonderangebote in die Gänge, Architekten finden Trep
pen „ästhetischer“ als Rampen. Bei vielen Ärzten gibt es keinen Zugang für RollstuhlfahrerInnen: Für diese Minderheit „lohnt sich“ die Investition nicht und Diskothekenbesuche sind schon längst nicht möglich.
Um den Betroffenen eine „Erweiterung ihres Aktionsradius“ zu ermöglichen, hat die Bremer Landesarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte“ (LAG)
den „Stadtführer für behinderte Menschen“ jetzt in einer überarbeiteten 2. Auflage herausgebracht. 1.127 Gebäude und öffentliche Einrichtungen wurden von Behinderten selbst einer genauen Prüfung unterzogen. „Wir wollten damit möglichst authentische und aussagekräftige Ergebnisse erzielen“, so Doris Bischoff von der LAG. Bildungs-, Kultur -und Freizeiteinrichtungen, Läden, Banken, gastronomische Betriebe, Arztpraxen, kurz: Alles, was mensch in seinem Alltag völlig selbstverständlich benutzt, kann von RollstuhlfahrerInnen meistens nicht oder nur mit fremder Hilfe benutzt werden.
Über 18 Monate Arbeit steckt in dem vorgelegten, taschengerechten und leicht zugänglichen Kompendium, das den rund 1.500 Bremer RollstuhlfahrerInnen und Zureisenden durch den oft mühevollen Alltag helfen soll. „Es hat gegenüber der ersten Auflage von 1980 schon einige Verbesserungen gegeben“, meint Gerhart Iglhaut, Vorsitzender der LAG, und verweist auf die Einführung der Niedrigflurbusse im Öffentlichen Personennahverkehr.
Insgesamt ist das Ergebnis aber immer noch unzureichend: Nur 33 Prozent der untersuchten Einrichtungen erwiesen sich als behindertengerecht, 32 Prozent waren bedingt zugänglich. „Wir müssen darauf hinarbeiten, daß die Erstellung eines solchen Stadtführers überflüssig wird“, weist Doris Bischoff auf die Perspektive der Arbeit. „Und da müssen noch einige Türen im Bewußtsein der Menschen aufgestoßen werden.“
Meist sind es finanzielle Gründe oder Gedankenlosigkeit, die den Alltag behinderter Menschen erschweren und die Verrichtung des Notwendigsten un
möglich machen. Deshalb will der Stadtführer nicht nur die Beschreibung eines bestimmten „Ist-Zustandes“ sein, sondern auch „das Problembewußtsein für die Situation behinderter Menschen in der bremischen Öffentlichkeit bei Planern, Architekten und Politikern“ schärfen. Das ist bisher offensichtlich nur minimal entwickelt, wie die Beispiele von Dieter Stegmann, 2. Vorsitzenden der LAG und selbst Rollstuhlfahrer, deutlich zeigen: So werden RollstuhlfahrerInnen, die vom Hauptbahnhof nach Bremen-Nord fahren wollen, immer noch in den Gepäckwagen abgeschoben, und die bereitgestellte Hebebühne für die Rollstühle wird nur zu Hauptverkehrszeiten bedient.
Die Diskriminierung Behinderter taucht praktisch immer noch in allen Lebensbereichen auf. So weigern sich beispielsweise viele Gastronomiebetriebe ihre Häuser behindertengerecht umzubauen, weil sie ihren Gästen „den Anblick Behinderter beim Essen nicht zumuten wollen“. So fehlt es an der Bereitstellung speziellen Geschirrs eben nicht nur aus Unachtsamkeit. Oft werden Behinderte auch nur in Hinterzimmern bedient. „Nicht der uneingeschränkt leistungsfähige, gesunde Bürger darf zum Maßstab für die Gestaltung der Umwelt gemacht werden, an die sich behinderte Menschen anzupassen haben“, fordert die LAG. „Behinderung als Normalität ist für die meisten Menschen gar nicht vorstellbar, aber genau das wollen wir erreichen“, hofft Doris Bischoff.
mad
Der Stadtführer kann über die LAG, Waller Heerstr. 55 in Bremen , ab 10.7. auch über Behindertenverbände und Bürgerhäuser für 3 Mark gekauft werden.
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