HAUS DER FREUDEN DER WELT

■ Orientexpreß - Endstation Tempodrom: Das „Horizonte„-Abschlußkonzert

Die Horizonte sind bis zum Anschlag erweitert, der orientierte Besucher schnürt seine Kulturtasche, das Festival ist zu Ende, der Urlaub beginnt. Am Ziel des Beuteltouristen, der sich beim Festival Traditioneller Musik weiterbilden durfte, musizieren die „Perlenfischer aus Bahrein“ am Arabischen Golf.

Die Horizonte '89 bestachen und erschlugen durch eine Gemischtwarenfülle, die nur noch durch die Internationale Tourismusbörse übertroffen wird. Hätte es ein Mensch vermocht, sämtliche Veranstaltungen, die nicht nur mit Unterhaltung, sondern auch mit schulfunkender Bildung gespickt waren, zu besuchen, er wäre wahrscheinlich jeglicher Illusionen über „den Orient“ beraubt. Allen, die nicht alles sehen oder gar „rezipieren“ konnten, und das waren wohl alle, bleibt der Trost der Daheimgebliebenen. Je ferner ein Land oder eine Kultur geographisch entlegen, desto unbegrenzter wuchern die Projektionsflächen. Tausendundein Wunsche geht in Erfüllung, wenn die Augen nur fest genug geschlossen sind.

Die meisten Besucher aller Einzelveranstaltungen zog das Jazz- und Rai-Pop-Abschlußkonzert im Tempodrom an, auch ohne Dezernat für Multikulturelles ein buntgemischtes Publikum. Viele Fans aus Algerien und dem Auswanderungsland Frankreich warten auf den „König des Rai“, Cheb Khaled, zum ersten Mal in Berlin. Doch zuvor galt es dem Jazzensemble aus Basrah (Irak) und Paris von Fawzi Al-Aiedy zu lauschen. Jazz auf klassischer Basis mit orientalischem Gesang, aber für Rai -Fans nicht gerade ein ideales Aufputschmittel, eher ein meditativer Tranquilizer.

Wesentlich assoziationsreicher der Auftritt der folgenden Band um die Sängerin Cheikha Remitti. Die Legende der beleibten Dame aus Oran ist folgendermaßen überliefert: „Cheikhates“ werden traditionell die Mitarbeiterinnen der Freudenhäuser genannt, die in diesen oder auch bei Hochzeitsfesten ihre Lieder singen, angeblich nicht nur zur Verlustigung, sondern auch, um das Stöhnen zu übertönen, so weiß es jedenfalls die Festspielgesellschaft zu berichten. Der Nachname Remitti soll demnach ebenfalls programmatischen Charakters sein, er sei entstanden durch ihren bewegten Lebenswandel und durch die häufigen Nachbestellungen an den Bars - „remettez-m'en un“ heißt „noch mal dasselbe“.

Von diesem Schema scheint leider auch ihre Musik getränkt zu sein, die bei Dauerbeschallung doch ein wenig monoton wirkt. Nichtsdestotrotz geraten die Fans aller Nationen in sichtbare Wallung ob der Bühnenpräsenz Cheikha Remittis. Sie wirft ihren voluminösen Oberkörper herum, wippt mit Perlenketten und Brüsten, schwenkt das Becken in die entgegengesetzte Richtung, als hätte sie sich ein Kugellager als Hüftprothese installieren lassen. Wenn sie dann noch ein kräftiges „Heiheihei“ herausschmettert, gibt es kein Halten mehr. Die Fans jubilieren und tirilieren ihr zu Füßen. Der Gesang wird zum Rhythmusgeber, die trommelnden Männer verschwinden im Hintergrund. Cheikha hat die Menge in ihrer Gewalt. Sie singt Anzüglichkeiten, die ein großer Teil des Publikums kaum verstehen dürfte. Die Texte des Rai handeln von sexueller Unterdrückung und Prüderie, beziehen Stellung für die benachteiligten Maghrebiner und ihre Genossen im fernen Exil Frankreich.

Rai war bis 1985 in Algerien offiziell verboten, die Künstler durften nicht auftreten, keine Platten verkaufen. Zuviel Angst hatte die Regierung vor dem musikalischen Aufruhr der Jugendlichen, die radikal mit moralischen Traditionen brachen und gegen die strikte Geschlechtertrennung ankämpften. Nicht mehr die Alten, die „Cheiks“, bestimmten den Kurs; die „Chebas“ und „Chebs“, die Jungen, spielten sich in die Herzen der AlgerierInnen. Auch und gerade Frauen spielten bei dieser Revolte eine Hauptrolle. Neben Cheikha Remitti berühmt geworden ist Cheba Fadela, die vor einigen Monaten das „Quartier Latin“ in ein schweißgetränktes Freundenhaus verwandelte.

Sexuelle Befreiung und Revolte gegen die Traditionen verficht auch Cheb Khaled, der aus Oran stammende Star des Rai. Der 1960 geborene wurde jahrelang aus den algerischen Medien ferngehalten, erhielt keinen Reisepaß, und seine Kassetten wurden zensiert. Inzwischen hat die algerische Führung die Unterdrückung der Raimusik allerdings aufgegeben, Khaled erhielt sogar staatliche Unterstützung für die Produktion seiner Schallplatte Kutche.

Seine Band hat im Unterschied zu Cheikha Remitti, die mit traditionellen Instrumenten arbeitet, eine klassische Rockbesetzung. Ein auf Wüstensound getunter Synthesizer ersetzt das Flötenensemble, während der E-Baß Funkelemente dazwischenquirlt. Ein faszinierender Mischmasch köchelt auf der Bühne, brodelt alle Traditionen, die vormals als „typisch“ nordisch oder orientalisch galten, durcheinander. Befreit von der Illusion, es gäbe spezielle Volksmusiken, die durch keine andere Kultur beeinflußt seien, saugt der von Industriemusikabfällen ausgelaugte Körper begierig die fremden Rhythmen ein. Arme recken sich empor, manch einer tanzt befreit, als sei er oder sie endlich der fröhlich verkrampften Lockerheit eines Jazz-dance entronnen. Während der junge Khaled mit dem Publikum spricht, dirigiert er gleichzeitig die Breaks und die Beschleunigung des Tempos. Sein Pop synthetisiert westliche Errungenschaften wie E -Gitarren-Riffs und Baßläufe und orientalische Rhythmik des Gesangs zu einer verführerischen, süchtigmachenden Droge.

Sommerliche Lieferengpässe für moderne orientalische Legenden brauchen BerlinerInnen jedenfalls nicht umzutreiben, am 5.Juli beginnt das Heimatklängefestival Orient de Luxe vorm Tempodrom.

Andreas Becker