: Einheit bewahren - Föderation erneuern
Michail Gorbatschows Fernsehansprache vom 1.Juli in Auszügen ■ D O K U M E N T A T I O N
Werte Genossen!
(...) Es kann uns alle tatsächlich nicht unbesorgt lassen, daß in letzter Zeit bald hier, bald dort Intoleranz, Reibungen und sogar Konflikte auf dem Boden der nationalen Beziehungen entstehen, Konflikte, die die Menschen aus der normalen Lebensbahn reißen und einer Reihe von Fällen zu menschlichen Tragödien geworden sind.
Kann man denn gleichgültig und teilnahmslos sein gegenüber dem Schicksal der Flüchtlinge, die es jetzt bei uns gibt, gegenüber dem Unglück von Menschen, die gezwungen sind, ihr Haus, ihre Habe und ihren Arbeitsplatz zu verlassen?
Unter den Flüchtlingen sind Greise, Frauen und Kinder, deren Schicksal für ihr ganzes Leben gebrochen ist. Sie müssen nicht nur physische Not leiden. Viel schwerer sind geistige Erschütterungen, die die Denkweise, das Verhalten und den Charakter der Menschen prägen können. (...)
Wir sprechen von einzelnen Brennpunkten der Zusammenstöße zwischen den Nationen. Wenn man sich aber der ganzen kolossalen Gefahr solcher Erscheinungen nicht bewußt wird, wenn sie sich weiter ausbreiten, können uns noch schlimmere Zeiten bevorstehen.
Die Menschen aller Nationalitäten müssen um diese Situation wissen und sich ihrer bewußt sein. Unverantwortliche Losungen, politische Hetze, Setzen auf die künstliche Gegenüberstellung und Kollision von Interessen, auf die Verdrängung einer Nation durch eine andere, Aufrufe und Aktivitäten dieser Art können zu einem gemeinsamen Unglück führen. (...)
Jeder muß sich den Gesetzen des Landes unterwerfen, in dem er lebt. Nur das kann die Rechte des Bürgers unabhängig von dessen Nationalität garantieren. Der Staat wird diese Rechte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen.
Niemand darf nationalistische Erscheinungen dulden, in welcher Form auch immer sie auftreten - sei es als lokaler Nationalismus oder als Chauvinismus. Sie sind für jede Nation erniedrigend und vom Standpunkt der Menschenwürde beleidigend und schändlich.
Man darf diejenigen nicht dulden, die die Reibungen in den Beziehungen zwischen den Nationen zu spekulativen und sogar verbrecherischen Zielen ausnutzen möchten. Wenn Intoleranz wirklich not tut, dann gilt das vor allem für diejenigen, die bewußt nationalen Hader schüren. (...)
Wir müssen diese Entwicklung der Situation stoppen. Und wir dürfen nicht unschlüssig sein, wir müssen in Übereinstimmung mit den Forderungen der Gesetze und den vitalen Interessen der Menschen die entschiedensten Maßnahmen gegen jene ergreifen, die Zusammenstöße zwischen den Nationen provozieren, zur Revision der Grenzen und zur Vertreibung nationaler Minderheiten aufrufen.
Hierbei darf keine Nachsicht geübt werden - weder gegenüber denjenigen, die den verbrecherischen Weg eingeschlagen haben, noch gegenüber jenen, die das begünstigen. (...)
Man muß der Wahrheit ins Gesicht schauen und zugeben, daß neben gewaltigen Leistungen in der Entwicklung aller unserer Völker sich auch nicht wenige Probleme angestaut haben, die unablässiger Aufmerksamkeit und unverzüglicher Taten bedürfen. (...)
Die einstige These über das Zusammenwachsen aller Nationen hat in der Praxis dazu geführt, daß die objektive und im allgemeinen gesunde Tendenz zur Annäherung und Internationalisierung der Entwicklung des nationalen Selbstbewußtseins entgegengestellt wurde.
Heute ernten wir auch die Früchte der Gesetzlosigkeit, die in den vorangegangenen Jahrzehnten zugelassen wurde: die Aussiedlung ganzer Völker aus ihren angestammten Gebieten und die Mißachtung der nationalen Interessen zahlenmäßig kleiner Nationen. All das gab es, und das mußte seine Spuren hinterlassen.
Infolge solcher Deformationen kam es zu Gleichgültgkeit gegenüber den nationalen Interessen, vielen ungelösten sozialökonomischen Problemen der Republiken, ungelösten Fragen der Autonomie, Deformationen in der Entwicklung der Sprache und der Kultur der Völker des Landes, Zuspitzung der demographischen Situation und vielen anderen negativen Erscheinungen, was letzten Endes Spannungen in den Beziehungen zwischen den Nationen hervorgerufen hat. (...)
Worin liegt der Schlüssel zur Lösung der Probleme, die sich angesammelt haben?
Erstens. Man muß sich von dem grundlegenden sozialistischen Kriterium leiten lassen, von dem schon auf der 19.Parteikonferenz die Rede war: Jeder Mensch, zu welcher Nationalität auch immer er gehören mag, muß sich in jedem Teil des Landes als gleichberechtigter Bürger fühlen und die Möglichkeit haben, alle von der Verfassung der UdSSR garantieren Rechte zu nutzen.
Die Gleichheit der Nationen und Völker ist mit der Gleichheit der Menschen, unabhängig von ihrer Nationalität, untrennbar verbunden. Das ist das höchste Prinzip des Humanismus der menschlichen Zivilisation.
Dort aber, wo dieses Prinzip nicht verstanden wird, spielen sich dramatische Ereignisse ab, und es kann zu neuen kommen. Bis jetzt hat es Konflikte in den Gebieten gebeben, wo Angehörige einiger Nationalitäten eine Minderheit und kleine Gemeinschaften bilden. (...)
Zweitens. Wir können mit einer Wandlung zum Besseren nur dann rechnen, wenn sich jede Nation, jedes Volk im eigenen Haus auf eigenem Boden geborgen fühlt.
Deshalb müssen die notwendigen Voraussetzungen für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt, für die freie Entwicklung der Sprache und der Kultur, für die Erhaltung und rationelle Nutzung der seit Jahrhunderten angestammten Umwelt gesichert werden.
Das steht fest, ebenso wie die Tatsache, daß das Wohlergehen einer einheimischen Nationalität erreicht werden kann, die ihr Leben und das Schicksal ihrer Kinder und Enkelkinder mit ihrer Wahlheimat verbunden haben.
Wir werden auch weiterhin in einer multinationalen Gesellschaft leben. Das gilt für alle Unionsrepubliken und Autonomen Republiken, für alle Autonomen Gebiete und Bezirke, für alle Regionen und Gebiete des Landes. (...)
Drittens. Nach dem April-Plenum (1985) des ZK der KPdSU sind die Partei und das Volk zu dem Schluß gekommen, daß es notwendig ist, eine radikal politische und ökonomische Reform zu realisieren. Nun hat uns das Leben zu der Erkenntnis gebracht, daß es ebenso notwenig ist, auch tiefgreifende Veränderungen in der sowjetischen Föderation vorzunehmen. (...)
Wenn wir an die Umgestaltung der Föderation und an eine Harmonisierung der Beziehungen zwischen den Nationalitäten denken, dürfen wir uns nicht über die Realitäten hinwegsetzen, die im Laufe von Jahrhunderten und insbesondere in den Jahren der Sowjetmacht entstanden sind. (...)
Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß in dieser Angelegenheit auch eine Vielzahl von Fehlern begangen wurde, daß es unübersehbare Ungereimtheiten gibt, die korrigiert werden müssen, bleibt es eine Tatsache, daß alle Republiken und Gebiete aufs engste miteinander verbunden sind. (...)
Daher müssen Aufrufe zu ökonomischer Autarkie und geistiger Isolation als den Grundinteressen jedes Volkes und der ganzen Gesellschaft zutiefst fremd angesehen werden. (...)
Seitdem wir die Umgestaltung begonnen haben, sind wir doch vor allem darum bemüht, unser Leben grundlegend zu verbessern. Dafür gibt es reale Möglichkeiten.
Ich bin sicher, daß man Antworten auf die uns bewegenden Fragen nicht in der Zerstörung der Einheit, nicht in der Zerstörung, sondern auf dem Weg einer entschiedenen Erneuerung der Föderation suchen muß. (...)
Bei der entschiedenen Zurückweisung jeder Erscheinungsform von Nationalismus ist es wichtig, allen legitimen nationalen Forderungen und Wünschen mit Feingefühl zu begegnen. (...)
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