: SEW-Mitglied entzweit Lehrergewerkschaft
■ Stalinismus-Vorwürfe und Unterwanderungsängste bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) nach der Wahl einer neuen Vorsitzenden, die SEW-Mitglied ist / Austritte und Proteste häufen sich vor den Sommerferien / Rücktrittsforderung
Kurz vor den Sommerferien hat sich über die SEW -Mitgliedschaft der Ende Mai gewählten Vorsitzenden der GEW eine schwere innergewerkschaftliche Krise entwickelt. Auf der Sitzung des geschäftsführenden Landesvorstands am vergangenen Montag wurde Ingeborg Uesseler-Gothow in einer heftigen Debatte zum Rücktritt aufgefordert. Mehrere Bezirksverbände haben sich in den letzten Tagen von der Vorsitzenden distanziert; etliche Gewerkschaftsmitglieder haben Protestbriefe an die GEW-Zentrale in der Schöneberger Ahornstraße gesandt. Nach Angaben von Frau Uesseler-Gothow seien wegen ihrer Wahl bislang 22 Mitglieder ausgetreten; darunter ist auch der Staatssekretär beim Wissenschaftssenat Hans Kremendahl (SPD).
Frau Uesseler-Gothow war Ende Mai zur Berliner GEW -Vorsitzenden gewählt worden, nachdem sie zuvor ihre SEW -Mitgliedschaft ausdrücklich erwähnt hatte. Die Wahl war allerdings denkbar knapp: erst im dritten Wahlgang erhielt sie 168 von 333 Stimmen. Seitdem gärt es unter den knapp 13.000 Mitgliedern: eine solche Vorsitzende, die aus einer „Kaderpartei“ komme, sei „in einer Zeit demokratischer Erneuerung der politischen Kultur der Stadt ein Gespenstertanz“, heißt es in einem Flugblatt Charlottenburger GEW-Mitglieder. Diese rufen dazu auf, die Mitgliedsbeiträge auf das Konto von amnesty international zu spenden.
Ende letzter Woche kritisierte der GEW-Bezirk Zehlendorf, die neue Vorsitzende repräsentiere „mit ihren gewerkschaftlichen und politischen Standpunkten“ nicht die Mehrheit der Mitglieder. Zugleich wird von „ungläubigen Erstaunen über Verständnislosigkeit, Verbitterung, Resignation, Austrittsdrohungen bis zu tatsächlichen Austritten“ unter den Mitgliedern berichtet. Zuvor hatte sich auch der GEW-Bezirk Kreuzberg distanziert.
Im Mittelpunkt der Kritik steht die unaufgearbeitete Geschichte der SEW als Westberliner Ableger der SED. Die SEW sei „stets der loyale Wurmfortsatz dieser stalinistischen SED-Politik“ gewesen, kritisiert der frühere AL-Abgeordnete Wolfgang Schenk in einem Protestschreiben. Die Wahl von Frau Uesseler-Gothow „bedeutet einen Bruch mit den radikaldemokratischen und blockübergreifenden Traditionen“ der GEW, urteilt Schenk. In dem vierseitigen Brief äußert Schenk die Befürchtung, die Vorsitzende könne nicht überzeugend für die Verteidigung demokratischer Rechte eintreten und verweist auf ihr Schweigen zu den „entspannungs-, demokratie- und Glasnost-feindlichen Ausfällen im deutschen Nachbarstaat“. Schenk geht weiter: er spricht mit Hinweis auf andere SEW-Mitglieder in den Führungsgremien von einer Unterwanderung der Lehrergewerkschaft.
Kritisch äußert sich auch der ehemalige Vorsitzende der GEW -Berlin, Gerhard Schmidt, zur SEW-Vergangenheit der neuen Vorsitzenden. Die GEW-Berlin hatte sich 1977 als eigenständiger Verband gegründet, nachdem der Berliner Landesbezirk wegen seiner strikten Ablehnung des „Unvereinbarkeitsbeschlusses“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes gegen Mitglieder und Sympathisanten von linken Organisationen aus dem Bundesverband flog. Die SEW hatte damals nicht etwa den linken Landesverband unterstützt, sondern zusammen mit Teilen der rechten SPD eine Spalterorganisation aufgezogen, die aber nie Einfluß erringen konnte. Die GEW-Berlin war 1982 - nachdem sie sich in vielen Punkten durchsetzen konnte - wieder in die Bundes -GEW aufgenommen worden. Die SEW versuche nun erneut „hoffähig“ zu werden, sagt Gerhard Schmidt. Es müsse offen diskutiert werden, welchen „Auftrag die SEWler in der GEW haben“.
Die Vorsitzende Uesseler-Gothow wollte sich zur Rücktrittsforderung aus dem geschäftsführenden Landesvorstand nicht äußern. Sie verweist darauf, daß sie vielfach ihre Bereitschaft zu Gesprächen angeboten habe, doch seien diese von den Kritikern nur in wenigen Fällen wahrgenommen worden. Die Kritiker müßten sich deshalb fragen, „ob dies ein faires Verfahren ist“. Die Stalinismus -Vorwürfe nannte sie „relativ absurd“.
Der Pressesprecher der GEW Rene Schwerdtfeger gesteht zu, daß die derzeitige Auseinandersetzung „alles andere als nützlich“ für die Organisation sei. Den „Ausschlag hat ihr überzeugendes Auftreten gegeben“, sagt er zur Wahl von Frau Uesseler-Gothow, die er als „zuverlässige Gewerkschaftlerin“ bezeichnet. Eine SEW-Unterwanderung hält er für „Quatsch“: die GEW „wird sicher keine stalinistische Organisation durch eine Vorsitzende“. Schwerdtfeger wird nachgesagt, er habe nur kandidiert, um ein politisches Gegengewicht zu Frau Uesseler-Gothow zu bilden. Als Pressesprecher, der die Organisation nach außen vertritt, äußert er sich freilich nur sehr zurückhaltend: Die Wahl Frau Uesseler-Gothows sei „nicht eine glückliche Entscheidung“. Die Diskussion solle „möglichst offen geführt werden“, sei sich der Landesvorstand einig. Das GEW-Organ 'Berliner LehrerInnenzeitung‘ werde sich mit dem Thema beschäftigen freilich erst im September.
Gerd Nowakowski
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