: Notlügen, gemeine Lügen und Statistiken
Drei Arten, die Unwahrheit zu sagen, kennt der Volksmund: Notlügen, gemeine Lügen und Statistiken. Auf ein monatliches Ritual aus Nürnberg läßt sich dieses Bonmot bestens anwenden. Beim Thema Arbeitslosigkeit ist eine geschockte Öffentlichkeitsarbeit längst wichtiger als die Fakten. Schon die Umstellung der Berechnungsmethode auf die neuen Daten der Volkszählung vor einigen Monaten brachte vielerorts eine Verbesserung der Arbeitslosenquote um rund zwei Prozent ohne daß sich irgendetwas an dem Problem geändert hätte.
Seit einem Monat sieht die Unternehmerlobby erst recht Grund zum Jubel: Die Bundesanstalt für Arbeit meldet wieder eine Eins vor dem Komma - wie die Behörde gestern bekanntgab, waren im Juni erneut weniger als zwei Millionen Menschen offiziell registriert.
Spätestens, seit Arbeitsminister Norbert Blüm im Vorfeld der Europawahl erstmals das Durchbrechen einer „Schallmauer“ gefeiert hatte, schreiben konservative Wirtschaftsjournalisten ein „Beschäftigungswunder“ herbei. Tatsächlich aber halfen hier in den letzten Jahren Novellierungen des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) nach:
-Ältere Arbeitnehmer gelten seit Anfang 1986 nicht mehr als arbeitslos. Wer 58 Jahre oder älter ist, der braucht laut AFG-Paragraph 105 c „der Arbeitsvermittlung nicht mehr voll zur Verfügung“ zu stehen. Zwar erhalten die Betroffenen ihre Arbeitslosenunterstützung weiter - aber nur, bis sie „die Voraussetzungen für den Anspruch auf Altersruhegeld“ erfüllen. Diese Art von statistischem Vorruhestand hat die Nürnberger Datenbank um rund 65.000 Personen erleichtert.
-Wer sich nur unregelmäßig beim Arbeitsamt meldet, gilt nicht mehr als arbeitslos. Seit dem letzten Jahr legt das AFG eine Drei-Monats-Frist fest. Sogenannte „Nicht -Leistungsempfänger“ - das sind im Bürokratendeutsch jene Betroffenen, die weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslosenhilfe erhalten - müssen ihr Arbeitsgesuch jetzt alle zwölf Wochen erneuern. Wenn sie das nicht tun, gehen die Vermittler stillschweigend davon aus, daß die Betroffenen einen neuen Job gefunden haben - oder aber nicht mehr an Arbeit interessiert sind. Die Statistiker zählen nach Schätzungen bis zu 70.000 Arbeitslose weniger.
-Wer zweimal im Jahr eine „zumutbare“ Arbeit ablehnt, wird seit dem Frühjahr für drei Monate lang nicht mehr mitgerechnet. Laut Dienstblatt 37/89 handelt es sich dann um „nichtarbeitslose Arbeitssuchende“. Diese Wortungetüme müssen die Arbeitsämter den Rentenversicherungen zwar weiterhin als Arbeitslose melden. Doch aus der Datenbank verschwinden sie für ein Vierteljahr.
Im Nürnberger Computer taucht ohnehin nicht auf, wer sich mit Hilfe des Arbeitsamtes fortbildet oder eine Umschulung macht; wer in der Hoffnung auf eine Lehrstelle schulische Warteschleifen durchläuft oder wer als ABM-Kraft Parks säubert oder Häuser anstreicht - zusammen 426.000 Personen. Einschließlich der TeilnehmerInnen an den Deutschkursen für Aussiedler (Mai: 89.400) beläuft sich die „Gesamt -Entlastung“ der Statistik auf eine halbe Million. Und vor allem fehlen die Frauen: Selbst die offizielle Untersuchung des „Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung“ der Nürnberger Bundesanstalt, der diese Zahlen entnommen sind, spricht nicht von zwei, sondern von mindestens drei Millionen Arbeitslosen - weil die Studie, im Gegensatz zur Statistik, die „stille Reserve“ berücksichtigt.
1983 hatte die Kohl-Regierung die Beseitigung der Arbeitslosigkeit versprochen, stellte das Unterschreiten der Einmillionengrenze in Aussicht. Je deutlicher aber wurde, daß sich nichts änderte, desto häufiger profilierten sich christdemokratische Politiker mit Vorschlägen, die Arbeitslosenstatistik nach unten zu bereinigen. CDU -Wirtschaftssprecher Matthias Wissmann bezifferte den, so wörtlich, „harten Kern“ der Arbeitslosen auf nur eine bis maximal anderthalb Millionen. Sogenannte „institutionelle Arbeitslose“ will er künftig „gesondert ausweisen“. Dazu gehören nach seiner Meinung zum Beispiel die 250.000 Teilzeitarbeit Suchenden. Bei ihnen, so hieß es verklausuliert in einem Thesenpapier, sei „die soziale Betroffenheit schwächer“. Im Klartext zielte die Formulierung auf Frauen, die lieber zu Hause bleiben sollen, weil ihr Mann gut genug verdient.
Nicht mehr zum „harten Kern“ zählt die CDU -Mittelstandsvereinigung auch die dreiviertel Million Arbeitsloser, die keine Unterstützung aus Nürnberg mehr erhält. Ein Teil von ihnen sei gar nicht an einer Arbeitsaufnahme interessiert, viele ließen sich nur deshalb registrieren, weil sie dadurch die eigenen Rentenansprüche steigern könnten. Gegen angebliche Drückeberger will Baden -Württembergs Ministerpräsident Lothar Späth mit Zwangsmaßnahmen vorgehen: In Stammtischmanier schlug der mögliche Kanzlerkandidat vor, ihnen das Arbeitslosengeld zu kürzen oder sie zu gemeinnützigen Tätigkeiten heranzuziehen.
Vorbilder für die statistische Kosmetik gibt es im Ausland. Während ihrer zehnjährigen Amtszeit hat die britische Premierministerin Margret Thatcher die Arbeitslosenstatistik rund 20 Mal geändert. Die offizielle Zahl der Arbeitslosen in Großbritannien reduzierte sich allein dadurch um gut eine halbe Million. Noch drastischer ging der niederländische Regierungschef Ruud Lubbers ans Werk. Im letzten Wahlkampf hatte er angekündigt, die Zahl der Arbeitslosen bis 1990 von 700.000 auf eine halbe Million zu reduzieren. Schneller als erwartet erreichte er sein Ziel: Schon Anfang dieses Jahres waren mit einem Schlag nur noch 270.000 Menschen arbeitslos gemeldet, sechzig Prozent weniger als vorher. Der Trick: Die niederländischen Arbeitsämter sind für die offizielle Zählung neuerdings gar nicht mehr zuständig. Das erledigt jetzt das „Zentralbüro für Statistik“ in Den Haag, das den Begriff der Arbeitslosigkeit völlig neu definierte. Als arbeitslos gilt in Holland nur noch, wer mehr als 20 Stunden wöchentlich arbeiten möchte - Frauen, die nur eine Halbtagsstelle suchen, zählen nach diesem Kriterium nicht mehr dazu. Und wenn Arbeitslosen eine Stelle angeboten wird, dann müssen sie diese akzeptieren - und in der Lage sein, den Job innerhalb von vierzehn Tagen anzutreten. Sonst verschwinden auch sie aus dem Computer.
„Halbwahrheiten“ nennt der CDU-Mittelständler Elmar Pieroth die bundesdeutschen Arbeitslosenzahlen. Ihm zufolge gibt es allein im Handwerk und im Hotel- und Gaststättengewerbe eine halbe Million unbesetzter Stellen. Tyll Necker, der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), weiß gar von 1,5 Millionen freien Jobs zu berichten. Die Bundesanstalt für Arbeit aber meldet nur rund 230.000 offene Stellen. Das Vermittlungsmonopol der Nürnberger Behörde möchten viele Unternehmer deshalb am liebsten abschaffen. Schneller, so meinen sie, könnten Arbeitssuchende durch private Vermittler untergebracht werden. Die amtlichen Stellenzählungen will der BDI durch Angaben repräsentativ ausgewählter Unternehmer ergänzen - um die These von den „faulen Arbeitslosen“ zu belegen. Die Arbeitgeberverbände verweisen gerne darauf, daß seit 1982 in der Bundesrepublik über eine Million zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse entstanden sind. Dabei verschweigen sie in der Regel, daß es sich zum großen Teil um befristete Stellen und Teilzeitverträge handelt.
Schon im kommenden Winter, das gibt auch das Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft zu, wird die Zahl der Arbeitslosen die Schwelle von zwei Millionen wieder überschreiten. Olaf Sund vom nordrhein-westfälischen Landesarbeitsamt wehrt sich gegen „modische Zahlenspielereien“: Der Leiter der Düsseldorfer Behörde kann „keine gravierende Verbesserung“ auf dem Arbeitsmarkt feststellen - „egal, ob die Arbeitslosigkeit jetzt knapp über oder knapp unter zwei Millionen liegt“.
Thomas Gesterkamp
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