IRGENDWIE SCHULDLOS

■ „Verrückte Kinder“ im El Locco

Er sitzt im kurzärmeligen T-Shirt unter der nackten Glühbirne, sie in roter Lockenpracht über elegant mattgrünem Sommerkleid, wird von indirektem Licht umschmeichelt, beide vor gedeckten Tischen. Sie sprechen Monologe, die sich hauptsächlich um ihre Kindheit drehen. Aber das ist auch schon alles, was ihnen gemein ist.

Er sitzt wegen Mordes ein und birst dabei vor Lebenskraft. Geräuschvoll schlürft er die Suppe aus dem Blechnapf, jagt besessen eine störende Fliege, trainiert seine Muskeln mit Liegestützen, stöhnt in seinen Träumen vor Lust und plant die Zukunft: Wenn er erst einmal herauskommt... Sie, in Freiheit, pickert in schön angerichteten Speisen und läßt sie stehen. Sie ist magersüchtig.

Erst redet der eine, dann die andere, immer schön nacheinander, denn sie haben ja so überhaupt nichts miteinander zu tun. Zwischen den Monologen besinnliche Pausen. Kraftvoll spielt Mario Grete den Mörder, daß das Hemd beim Konditionstraining fast platzt, plaziert einen herben Rülpser hinter das Auskratzen des Topfes und brüllt die Fliege an: „Fotze!“ Der Schweiß läßt sich riechen, und der Nachgeschmack einer ordinären Suppe klebt einem am eigenen Gaumen. Nermin Safi dagegen vergißt, daß sie Gesicht und Hände hat. Zu sehr ist sie damit beschäftigt zu sprechen, als ob sie dabei Kirschkerne vornehm ausspucken wolle. So vorsichtig spielt sie die Kranke aus besserem Hause, daß ihre gehauchten Klagen mit dem Luftzug davongetragen werden.

Irgendwie muß ihre Krankheit ihre Ursache in der Jugend haben, irgendetwas lief in der Pubertät schief. Mag sein, daß es die unglückliche Liebe zu ihrer Sportlehrerin war, mag sein die irgendwie geartete Übermacht der zerstrittenen Eltern, die sich schließlich irgendwann im Zorn trennten. Da es so etwas millionenmal auf der Welt gibt, müssen große Geister der Bildungswelt bemüht werden, und auch das heimlich geführte Tagebuch muß irgendeine geheimnisvoll zentrale Stellung einnehmen, um zu erklären, warum sie nun ausgerechnet magersüchtig wurde. Der im Umgang mit sich selbst ungeübte Mörder gräbt nicht in seiner Vergangenheit, ihm stößt sie auf wie sein Rülpser. Einmal ertappte er seine Frau mit irgendeinem anderen, als Seemann hat er irgendwo einmal irgendeinem den Doktor geholt, weil ihn die anderen einfach hätten krepieren lassen. Und natürlich hatte er auch Eltern. Die Familie trug ihre Kräche in ihrer Kneipe handgreiflich auf der Kellertreppe aus.

Mit einer Magersüchtigen aus „besseren Kreise“ und einem Mörder aus kleinbügerlichem Milieu beginnt das Theaterprojekt Resonanz etwas, das es nicht ausführt. Ganz am Rande wird ein gesellschaftlicher Kontext angetippt, mit dem Magersucht und Mord ja irgendetwas zu tun haben könnten. Aber so weit wagt sich „Verrückte Kinder“ von Dirk Josczok nicht. Die beiden unabhängig voneinander vor sich hin Monologisierenden bleiben einfach ver-rückte Kinder, denn an ihrem Elend sind in erster Linie - wenn auch nur wieder irgendwie - die Eltern schuld. Dieses permanente Irgendwie raubt den beiden schon formal völlig voneinander getrennten Selbstgesprächen auch noch jeden möglichen inhaltlichen Zusammenhang.

Mit einigem bösen Willen ließe sich dem Stück sogar die Folgerung unterstellen: Bessergestellte Problemkinder hören auf zu essen, dieselben aus Familien mit wenig Geld und anderen Umgangsformen begehen eben einen Mord. Irgendwie hat es das Theaterprojekt Resonanz so aber auch nicht gemeint.

Claudia Wahjudi

„Verrückte Kinder“ von Dirk Josczok im El Locco, bis zum 30. Juli, Do-So jeweils um 21 Uhr.