: Startbahnprozeß: Gutachten wackelt
Anklage läßt zweifelhafte Gutachten des Bundeskriminalamtes teilweise fallen / Expertise war Grundlage für Anklageerhebung / Verteidiger: Qualität wie Horoskop / Heute neue Haftprüfung für Andreas S. ■ Aus Frankfurt Michael Blum
Die Bundesanwaltschaft (BAW) hat im gestrigen Verhandlungstag des Startbahnprozesses vor der Staatsschutzkammer des Oberlandesgerichts Frankfurt den umstrittenen BKA-Gutachter Ulrich Perret teilweise fallengelassen. Aufgrund mehrerer von dem Nichtlinguisten angefertigter „linguistischer Gutachten“ ist der Startbahngegner Andreas S. seit einem Jahr inhaftiert. Die BAW wirft dem Wiesbadener - gestützt auf Perrets dubiose Expertisen - die Anfertigung von drei Bekennerschreiben zu Brandanschlägen der Revolutionären Zellen in Wackersdorf und Kelsterbach 1987 vor. Gegen Andreas S. wurde deshalb Anklage wegen des Vorwurfs der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ erhoben. In einer kapriolenhaften Erklärung distanzierte sich gestern Oberstaatsanwalt Klaus Pflieger teilweise von den „Schlüssen in Perrets Gutachten“, die von der Verteidigung als unwissenschaftliche Schludrigkeiten qualifiziert wurden. „An den Fakten“, die Perret mit seinen Textvergleichen zwischen Bekennerschreiben und privater Post von Andreas S. geliefert habe, „muß man aber festhalten“, sagte Pflieger. Schreib-, Satzzeichen- und Abkürzungsfehler seien bei beiden Textblöcken auffallend gleich. Zudem gebe es gegen Andreas S. weitere Tatverdächtigungen. Dessen Verteidiger, Rechtsanwalt Kronauer, wies dies zurück: „Inhaftierung und Anklage beruhen auf dem Gutachten.“ Von Wissenschaftlichkeit sei bei dem Gutachten „keine Spur zu entdecken, es hat das Niveau eines Horoskops aus der Regenbogenpresse“. Die angeblich dringenden Tatverdachte gegen Andreas S., die der BAW eine Inhaftierung und Anklage als dringend geboten erscheinen ließen, seien bereits im April 1988 von Bundesanwalt Pflieger als zu schwach empfunden worden. Die BAW hatte damals das Verfahren mangels Tatverdacht selbst eingestellt und erst bei Vorlage der Expertise wieder Anklage erhoben. Rechtsanwalt Baier warf der BAW vor, sich die „Rosinen“ aus dem Skandalgutachten herausgesucht zu haben und davon auszugehen, daß Andreas S. die Bekennerschreiben geschrieben habe, weil sie sonst niemand in der „terroristischen Vereinigung“ hätte schreiben können. „Andreas S. soll Mitglied der terroristischen Vereinigung sein, weil es ohne Schreiben keine Vereinigung gibt.“ Der 5.Strafsenat will heute über die Aufhebung des Haftbefehls gegen Andreas S. entscheiden.
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