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Einseitige Abrüstung bei Dialog

Gorbatschow vor der parlamentarischen Versammlung des Europarats / Kein großer Entwurf, aber konkrete Vorschläge zur pan-europäischen Zusammenarbeit / Abrüstungsvorschlag bei atomaren Kurzstreckenwaffen / Plädoyer für Euro-Glotze  ■  Aus Straßburg Th. Scheuer

„Eine Blaupause für das gemeinsame europäische Haus“, so dämpfte Michail Gorbatschow allzu hohe Erwartungen des Auditoriums gleich ab, habe er natürlich nicht mitgebracht. Den großen konzeptionellen Wurf für ein entblocktes Europa 2000 landete der Sowjetchef gestern mittag vor der parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg tatsächlich nicht. Doch die Latte konkreter Vorschläge und Beispiele pan-europäischer Zusammenarbeit, die Gorbatschow den Vertretern der 23 westeuropäischen Länder auftischte, könnte durchaus einiges in Bewegung setzen.

Offenkundig war dabei sein Bemühen, die durch das Schlagwort vom gemeinsamen europäischen Haus („GEH“) beflügelten Phantasien wieder auf den Boden des Machbaren zu holen. „Wichtigste Prämisse für eine normale europäische Entwicklung“, das unterstrich Gorbatschow deutlich, sei die Existenz zweier sozialer Systeme in Europa. Jede Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder sei unzulässig. Bevorzugtes Metier auch auf europäischer Ebene: Die Abrüstungspolitik.

Die Philosophie des GEH schließe bewaffnete Auseinandersetzungen aus. Besonders störend empfindet Gorbatschow hier bekanntlich die taktischen Atomwaffen. Schließlich können die Kurzstrecken aufgrund ihrer Reichweiten nur unter dem eigenen Dach hochgehen. „Wozu sind sie also da und wer braucht sie?“ fragte Gorbatschow beschwörend die multinationale Abgeordnetenschar. Die „vollständige Abschaffung dieser Waffen“ müsse das Ziel sein. Das sowjetische Drängen auf eine weitere Null-Lösung bei den atomaren Kurzstreckenwaffen ist bekannt; neu sind jedoch Moskaus Vorschläge zum Teilnehmerkreis für Verhandlungen darüber: Neben sowjetischen und US -amerikanischen Experten will Gorbatschow nun auch Teilnehmer aus Großbritannien und Frankreich und darüber hinaus sogar aus jenen „Staaten, auf deren Territorium Nuklearwaffen stationiert sind“ am Verhandlungstisch sehen. Dazu würde dann auch die BRD und die DDR gehören. Schon die bloße Zusage solcher Verhandlungen seitens der Nato - so lockte der Abrüstungsmeister aller Klassen und Waffengattungen - könnte sein Land mit der einseitigen Reduzierung taktischer Atomwaffen in Europa quittieren. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe innerhalb der in Genf ansässigen UNO-Wirtschaftskommission, so ein konkreter Vorschlag, solle sich mit der Umwandlung militärischer in zivile Produktion in Europa befassen.

Sei die Sicherheitspolitik das Fundament des GEH, dann könne Fortsetzung auf Seite 2

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Gorbatschow vor dem Europarat in Straßburg

Fotos: T. Scheuer / S. Sauer / Montage taz

FORTSETZUNGEN VON SEITE 1

als „tragender Rahmen“ eine „Allround-Kooperation“ in den verschiedensten Bereichen angesehen werden. Die UdSSR könne durchaus jenen Konventionen des Europarates beitreten, die für Nichtmitglieder offen sind, z.B. jenen in den Bereichen Umweltschutz, Kultur, Erziehung und grenzüberschreitendes Fernsehen. In Straßburg soll es ein sowjetisches Generalkonsulat geben.

Als Felder für gemeinsame Projekte nannte er: eine „transeuropäische Hochgeschwindigkeitseisenbahn„; die Förderung der Sonnenenergie; die Endlagerung radioaktiver Abfälle und die Verbesserung der Sicherheitsstandards für AKWs. Sehr am Herz scheint dem Kreml-Hausherren die ost-west -kompatible Euro-Glotze fürs gemeinsame Eigenheim zu liegen: Neben gemeinsamen TV-Satelliten würde die UdSSR gerne mit den Westeuropäern beim hochauflösenden Fernsehen kooperieren. Ein interessantes Angebot, da die EG in diesem Be

reich bislang ergebnislos mit der US-Industrie um gemeinsame Normen feilscht. Auch vor dem Umweltschutz und gar vor den Menschenrechten soll die proklamierte „Allround-Kooperation“ nicht haltmachen: Während ein gemeinsames Umweltinstitut gar mit Kompetenzen versehen sein soll, soll eine entsprechende Einrichtung (vorgeschlagener Titel: Europäisches Institut für vergleichendes Menschenrecht) im Bereich der Menschenrechte erst mal vergleichen und forschen. Auf jeden Fall solle das GEH „eine rechtstaatliche Gemeinschaft“ bewohnen. „Die Europäer“, drängte Gorbatschow abschließend dieselben aus dem West-Flügel des GEH, „können die Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts nur meistern, wenn sie ihre Anstrengungen bündeln.“ Das könnte, am gleichen Pult, auch Jacques Delors so gesagt haben.

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