: Unbeschreiblich lebendig
■ Frauen und ihre Gründe, in Berlin zu leben
Gunhild Schöller
„Hier ist alles wahnsinnig speedy. Anfangs hat mich das irritiert, aber mittlerweile brauche ich das auch.“ Berlin kann wie ein Rausch sein und wie die große Liebe. „Noch nie war ich so glücklich in einer Stadt“, Birgit Cramon-Daiber ist begeistert. Schwärmt sie so heftig, weil sie Berlin schon bald - „aber nur mit einem Bein!“ - verlassen muß? Sie ist Europa-Abgeordnete für die Alternative Liste und will Ideen der Berliner (Frauen-) Projekte-Szene in die Eurokratie-Hochburgen Straßburg und Brüssel tragen.
Die meisten Berlinerinnen sind nicht in Berlin geboren, sondern zugezogen aus der Bundesrepublik und anderen Ländern. Ihre Motive, auf die Insel hinter der großen grauen Mauer zu kommen, sind so unterschiedlich wie die Facetten der Stadt. Bemerkenswerte Anziehungskräfte übt Berlin auf Frauen aus, die sich emanzipieren wollen: In der Anonymität und Vielfalt der Großstadt läßt sich wunderbar mit Lebensstilen experimentieren - ohne die sattsam bekannten Hinweise, daß Frau Schmidt von nebenan und Tante Berta davon nichts halten und daß die Patentante auch schon ständig frage, wann denn geheiratet werde.
„Es ist phantastisch“, schwärmt Birgit Cramon-Daiber weiter, „hier ist ein offenes Feld, wo du spinnen kannst, eine Vielfalt wie nirgendwo sonst.“ Liegt das vielleicht an der Mauer - die die klare Grenze nach außen zieht und deshalb Abgrenzungen nach innen zumindest nicht in dem Maße zuläßt wie in der Bundesrepublik?
„Die Berliner Ureinwohner sind genauso engstirnig wie die Schwaben in Stuttgart!“ Doro Kießling, Werbefachfrau mit eigener Agentur für Public Relations, muß es wissen. Sie kommt aus dem „Dorf Stuttgart“. Über Frankfurt zog sie nach Berlin in der Hoffnung auf mehr Spielraum - und fand ihn „in diesem Konglomerat der Völker“. Was die Grünen heute angeschickst „multikulturelle Gesellschaft“ nennen, entdeckte Doro Kießling schon vor siebzehn Jahren. Aber sie bleibt sich treu: „Die Exil-Schwaben sind die nettesten.“ Und weil Doro Kießling immer Wert darauf legte, mit Frauen zusammenzuarbeiten, sind die Mitarbeiterinnen ihrer kleinen Agentur selbstverständlich ausschließlich Exil-Schwäbinnen.
Als Fachfrau für Außendarstellung hat sie einen klaren Blick dafür, wie die Berlinerinnen sich verändern. „In den letzten fünf Jahren sind die Frauen hier sehr selbstbewußt geworden, sie wissen, wie viel ihre Arbeit wert ist und zeigen ihren Erfolg. Und viele sind sehr schick geworden.“
Noch Anfang der achtziger Jahre kam manche Frau nach Berlin, um sich zu erholen - vom Zwang, ständig auf ihr Outfit zu achten. Ein Zwang der in anderen Städten, besonders München, Düsseldorf und Hamburg heftig grassierte. In Berlin konnte sie einfach auf die Straße gehen, ohne zuvor den prüfenden Blick in den Spiegel getan zu haben. Wenn sie keine Lust hatte, sich über ihre Kleidung Gedanken zu machen, zog sie das an, was vom Vortag noch überm Stuhl hing. Es gab eine klare Trennung zwischen den reichen, schicken und hellen westlichen Bezirken rund um den Kudamm einerseits und dem eher düsteren Szene-Bezirk Kreuzberg andererseits. Seit fünf Jahren sind die Unterschiede nur noch graduell - auch die Frauen in Kreuzberg achten jetzt genau auf ihren Schick. Gekonnt wählen sie aus zwischen den Angeboten der Stoffabteilung im KaDeWe und dem exklusiven Laden mit dem alternativ angehauchten Namen Stoff-Wechsel in SO 36.
„Berlin wird immer westdeutscher“ konstatiert die Autorin Uta Ruge, die Berlin verließ, um in London zu leben. „London ist unschicker, und man ist dort weniger aggressiv.“ Uta Ruge kam 1975 als Studentin nach Berlin. „Für anpolitisierte und anfeminisierte Frauen kamen damals nur zwei Städte in Frage - Frankfurt und Berlin.“ Wobei sie Berlin vorzog, weil es größer und deshalb unverbindlicher war und mehr intellektuelle Distanz zuließ. Fasziniert war sie vom „Pathos der Zerstörung und des Untergangs“, der an den Berliner Gemäuern und Straßen haftet. Die deutsche Geschichte ist in Berlin sichtbar wie in keiner anderen Stadt. „Aber in den letzten Jahren sollte die deutsche Geschichte verschwinden hinter den neuen glatten Fassaden“, so Uta Ruge zur Stadterneuerung unter CDU-Regie. „Mir war das unerträglich.“
Ebenfalls nur noch schwer erträglich findet Ilknor Örgen -Ernst Berlin. Seit der letzten Wahl hat sie Angst. Da kamen die Republikaner ins Abgeordnetenhaus. „Vorher war Berlin meine Heimat, im wesentlichen habe ich mich wohlgefühlt“, sagt die gelernte Kauffrau, die als zehnjähriges Kind mit ihrer Familie aus der Türkei nach Berlin kam. „20 Jahre lang fühlte ich mich sicher, nun sind diese Republikaner gewählt und ich bin ängstlich geworden gegenüber den Deutschen.“ Seit sechs Jahren wohnt sie im gleichen Haus im Stadtteil Moabit - seit der Wahl Anfang dieses Jahres wird v. A., ein Hausbewohner, nicht müde, sie darauf hinzuweisen, daß in diesem Haus „Ordnung und Sauberkeit“ herrsche. „Er reißt dreckige Türkenwitze und sagt, ich soll meine Fenster putzen.“ Fühlt sie sich persönlich bedroht? „Nein, aber ich habe insgesamt Angst um meine Leute.“
„Berlin ist das Lesbenmekka!“ Ira Kormannshaus pilgerte vor fünf Jahren aus Düsseldorf hierher. Und blieb. „In Düsseldorf kannte ich die ganze Szene. Es gab ein langweiliges Frauencafe und einen Plüsch-Sub. Und niemals änderte sich was.“ Auf der Suche nach Vielfalt auch in der Lesbenszene wurde sie in Berlin nicht enttäuscht. Angenehm unüberschaubar sind die Treffs und Termine der Lesben über die großen Innenstadtbezirke Kreuzberg und Schöneberg verstreut. Sie müssen sich nicht untereinander kennen, nur weil sie Lesben sind. Mit einem „Referat für gleichgeschlechtliche Lebensformen“, einem Referat für Lesben und Schwule also, setzt Anne Klein, frauenliebende Senatorin für Frauen, Familie und Jugend, in ihrem Ressort neue Maßstäbe auch in der Lesbenpolitik.
„Für die Westdeutschen existiert Berlin eigentlich nicht. Es ist viel zu weit weg.“ Deshalb nahm sie den Umweg über New York. Ruth Schlosser, Krankenschwester aus Kirchheim/Teck (30.000 Einwohner) lebte 14 Jahre lang in der Stadt, mit der Berlin manchmal verglichen wird. Sie floh aus der gigantomanischen Metropole, die zunehmend verarmte und verslumte: „Meine Freundinnen wurden immer neurotischer dort, du willst das Elend nicht mehr sehen und ziehst dich mehr und mehr zurück.“ Auf der Suche nach Ersatz für New York fand sie Berlin. Sie fand es wunderbar. „Es ist ein bißchen Großstadt, aber nicht so hart. Eigentlich ist es hier richtig gemütlich.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen