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Dioxin-Studie erschüttert Müllverbrennungspolitik

Heißer Streit hinter den Kulissen: Dioxinbewertungshilfe der hessischen Landesanstalt für Umwelt versetzt seit knapp zwei Jahren die bundesdeutschen Umwelttechnokraten in helle Aufregung / Dioxin-Grenzwertvorschläge hätten für Industrie und Müllverbrennung „verheerende Folgen“  ■  Aus Düsseldorf Walter Jakobs

Eine brisante Dioxin-Studie der hessischen Landesanstalt für Umwelt sorgt bei Umweltpolitikern und -behörden aller Bundesländer für Aufregung. Von der Öffentlichkeit bislang unbemerkt, wird seit zwei Jahren hinter den Kulissen mit allen Mitteln versucht, die Aussagen der Studie über zulässige Dioxin-Grenzwerte in Zweifel zu ziehen, um möglichen Konsequenzen zu entgehen. Denn durch die Umsetzung der dort geforderten Grenzwertziehung geriete die bisherige Dioxin- und Müllverbrennungspolitik in der Bundesrepublik insgesamt ins Wanken. Am frühesten reagierte noch das Düsseldorfer Sozialministerium. Weil in der „Bewertungshilfe für Dioxine“, wie die hessische Studie heißt, für „alle Bereiche, zum Beispiel Atemluft, Lebensmittel, Wasser, Böden und Wohngebiete Grenzwerte empfohlen werden, die weitreichende Konsequenzen im Hinblick auf die Herstellung, Verwendung und Entsorgung von Stoffen haben, bei denen Dioxine freigesetzt werden“, forderte das Ministerium in einem Schreiben vom 27.Oktober 1987 an den zuständigen Ministerialbeamten im niedersächsischen Sozialministerium die dortige Behörde auf, „für ein abgestimmtes Vorgehen der Länder“ zu sorgen.

Die Düsseldorfer baten darum, das Thema bei der kommenden Sitzung der Arbeitsgemeinschaft Leitender Ministerialbeamter auf die Tagesordnung zu setzen, denn die hessische Bewertungshilfe weiche „inhaltlich von der bisherigen Bewertung der Dioxine durch das Umweltbundesamt und das Bundesgesundheitsamt erheblich ab“, mit der Konsequenz, daß „auch die bereits vorhandenen Dioxine drastisch reduziert werden müßten“.

Vor allem die Aussage über die für Menschen tragbare tägliche Aufnahme des Ultragiftes Dioxin (TCDD) alarmierte bundesweit die Umwelttechnokraten. In der Broschüre heißt es wörtlich: „Wissenschaftlich vertretbar ist eine tägliche Belastung für den Menschen im Bereich 0.01 bis 0.1 pg/kg.D (Pikogramm pro Kilo pro Tag, die Red.). Mit der Einschränkung, daß es sich um einen vorläufigen, zu reduzierenden Grenzwert handelt, ist 0,1 pg/kg.D als äußerster Kompromiß an die Durchsetzbarkeit tragbar.“

Die US-amerikanische Umweltbehörde EPA geht sogar noch weiter. Sie hält lediglich eine Dioxin-Belastung von 0,008 pg pro Kilo und Tag für vertretbar. Dagegen propagieren das Umweltbundesamt und das Bundesgesundheitsamt einen Grenzwert von 1 bis 10 pg pro Kilo und Tag, also einen bis zu hundertfach höheren Wert.

Müllverbrennung gefährdet

Nach Auffassung des Kieler Toxikologen Professor Wassermann hätte der niedrigere Grenzwert für die „Müllverbrennungsdiskussion gravierende Auswirkungen“. Wenn es gelänge, den unter dem Gesichtspunkt des präventiven Gesundheitsschutzes notwendigen niedrigen Grenzwert von 0,01 pg pro Kilo und Tag gesetzlich festzuschreiben, müßte die Industrie insgesamt, so Wassermann zur taz, „verheerende Folgen“ gewärtigen. Die gesamte Dioxin-Politik stünde zur Disposition.

Entsprechend heftig reagierten die Betroffenen. Das Düsseldorfer Umweltministerium, wegen einer Vielzahl von Genehmigungsverfahren für Müllverbrennungsanlagen - bei der Verbrennung wird Dioxin frei - direkt betroffen, bestellte bei seinem Hausgutachter Professor Schlipköter, Leiter des Düsseldorfer Instituts für Umwelthygiene an der Universität Düsseldorf, umgehend eine „Stellungnahme“. Die lieferte Schlipköter am 29.März letzten Jahres. Darin heißt es: „Die vorgelegte Bewertungshilfe ist eine äußerst laienhafte Darstellung der Dioxin-Problematik und ein Musterbeispiel dafür, wie eine unsachgemäße Auseinandersetzung und mangelnde Fachkenntnisse zu Fehlinterpretationen von wissenschaftlichen Daten führen kann.“ Das durch die hessische Studie insbesondere angegriffene Berliner Gesundheitsamt sprach sogar von „eklatanten Falschdarstellungen“.

Die heftige Reaktion überraschte die Verantwortlichen der Studie, hatten doch berufene Gremien, wie der beim Bonner Arbeitsministerium angesiedelte „Ausschuß für Gefahrstoffe“, nach Zusendung der Broschüre keinerlei Kritik geäußert. Um den tatsächlichen Gehalt dieser massiven Angriffe zu klären, lud das hessische Sozialministerium, das die Dioxin -Bewertungshilfe noch zu rot-grünen Regierungszeiten bei der Landesanstalt für Umwelt in Auftrag gegeben hatte, für den 29. August 1988 zu einem Dioxin-Fachgespräch ein, an dem 25 zum Teil hochrangige Experten teilnahmen. Professor Schlipköter mied die Veranstaltung und schickte lediglich seinen Mitarbeiter Dr. Abel.

Bestellte Zweifel an Studie zurückgewiesen

Aus dem der taz vorliegenden schriftlichen Protokoll dieser Sitzung geht hervor, daß die Kritiker den Beweis für ihre maßlosen Vorwürfe schuldig blieben. Die „Kernaussagen der Broschüre“ seien, so der ebenfalls am Dioxin-Fachgespräch beteiligte Professor Wassermann, „nach wie vor richtig und aktuell“. Kleinere, inzwischen vorgenommene Korrekturen seien „von peripherer Bedeutung“.

Als grob fehlerhaft erwies sich bei dem Fachgespräch hingegen die Kritik von Schlipköter, der unter anderem geschrieben hatte: „Nach bisherigen Kenntnissen und in der Fachwelt unumstritten ist TCDD kein Tumorinitiator, sondern ein Tumorpromotor, der auch in niedrigen Konzentrationen noch wirksam ist. Dies wird in diesem Konzept negiert und initierende Wirkung der promovierenden Wirkung gleichgesetzt. Promotoren wirken erst nach Initiation. In bestimmten Stadien ist die promovierende Wirkung reversibel.“ Ob Dioxin für die Krebsentstehung initierend, also ursächlich verantwortlich ist, oder aber nur promovierend, also krebsfördernd wirkt, läßt sich tatsächlich nicht sicher feststellen. Professor Neumann, Toxikologe an der Uni Würzburg, nahm dazu beim Fachgespräch Stellung: „Prof. Neumann möchte grundsätzlich feststellen, daß Dioxin zu Recht als krebserzeugend eingestuft worden sei. Im Augenblick gäbe es keine Möglichkeit, in der Bewertung zwischen Initiatoren und Promotoren zu unterscheiden. (...) Im Augenblick sei man in der Wissenschaft noch nicht imstande, einen Promotor als Promotor zu definieren, bestenfalls könne man sagen, der Stoff habe promovierende Eigenschaften.“ Daß Dioxin kein Tumorinitiator sei, könne gegenwärtig „wissenschaftlich nicht exakt“ bekundet werden. Soweit Neumann, dessen Aussage besonders schwer wiegt, weil er als Mitglied der „MAK -Kommission“ für die Grenzwertbestimmung giftiger Stoffe in der BRD mitverantwortlich ist.

„Die Eingaben von Herrn Prof. Schlipköter (vertreten durch Herrn Dr. Abel) und vom Bundesgesundheitsamt (vertreten durch Herrn Dr. Beck und Herrn Dr. Lingk) konnten einer kritischen wissenschaftlichen Diskussion nur selten standhalten und mußten überwiegend wieder zurückgenommen werden“, lautet das Resümee der Kieler Toxikologen Wassermann, Kruse und Alsen-Hinrichs über das Dioxin -Fachgespräch. Auf Befragen zeigte sich Abel mit dem Protokoll des Dioxin-Gespräches, das die Wertung der Kieler Wissenschaftler ohne Einschränkung bestätigt, „nicht einverstanden“. Abel sieht die Schlipköter-Kritik durch den Verlauf des Gespräches sogar „bestätigt“.

Im Gegensatz zu Abel ist Dr.Lingk vom Bundesgesundheitsamt der Auffassung, daß das Protokoll „die Sitzung im wesentlichen gut wiedergibt“. Gleichwohl bleibe das Amt aber bei seiner Kritik. Inzwischen, so Dr. Lingk zur taz, habe „auch die amerikanische Umweltbehörde EPA ihren Wert nach oben korrigiert“. Diese Behauptung ist nach Auskunft von Wassermann „definitiv falsch“. Wassermann am Donnerstag wörtlich zur taz: „Noch vor ein paar Tagen habe ich mit den zuständigen Leuten in den USA telefoniert. Sie bleiben weiter bei den bisher empfohlenen 0,008 pg TCDD pro Kilo täglich.“ Wassermann wirft „dem Tierarzt Dr. Lingk“ vor, „nicht die Gesundheit der Menschen, sondern die der Industrie zu schützen“. Wassermann weiter: „Die Industrienähe von Dr, Lingk ist seit Jahren in unglaublicher Weise sichtbar geworden. Im Interesse einer längst überfälligen Sanierung des Amtes sollte er möglichst bald seinen Platz freiwillig räumen.“ Durch Propagierung der höheren Grenzwerte mißachte die Berliner Behörde den „präventiven Gesundheitsschutz“.

Daß der Gesundheitsschutz zugunsten anderer Interessen zurückstecken muß, hat beim Berliner Amt in der Tat Tradition. Immer wieder geriet die Behörde wegen ihrer besonderen Industriefreundlichkeit in die Schlagzeilen. Anfang des Jahres hat sogar der Bundesrechnungshof die Verknüpfung mit der Industrie gerügt. Über einen Förderverein hatte das BGA-Institut für Wasser, Boden und Lufthygiene ausgerechnet von der Asbestindustrie „versuchsgebundene Spenden“ erhalten. Unterdessen geht der Kampf um eine Neuauflage der Dioxin-Broschüre in die entscheidene Phase. Für Professor Ott, Leiter der hessischen Anstalt für Umwelt, steht fest, daß durch die bisherige Diskussion die Bewertungshilfe inhaltlich nicht erschüttert worden sei. Inzwischen liege ein neuer Entwurf unter Berücksichtigung der jüngsten Forschungsergebnisse vor, der aber „keine gravierenden Änderungen“ zur Erstauflage aufweise.

Über die von der Landesanstalt gewünschte Neuauflage entscheidet letztlich der Sozialminister in Abstimmung mit dem Umweltminister Weimar. In den nächsten Tagen geht der Entwurf den Ministerien zu. Vor allem Weimar, dem bei der Müllverbrennungsdiskussion in Hessen des öfteren die Studie der Landesanstalt vorgehalten worden ist, gilt als jemand der die Neuauflage verhindern will. Letztlich wird wohl selbst Ministerpräsident Wallmann ein Wörtchen mitreden, denn einige der Broschürenkritiker haben sich persönlich an den Regierungschef gewandt.

Alles angeblich nur ein „Expertenstreit“

Lehnt die hessische Regierung die Herausgabe der Broschüre mit den empfohlenen niedrigeren Dioxin-Grenzwerten ab, kann sie sich des Beifalls der sozialdemokratisch regierten Düsseldorfer Landesregierung sicher sein. Denn Umweltminister Klaus Matthiesen, als steter Werber für die Müllverbrennung durch die Lande reisend, geriete in arge Schwierigkeiten, erhielten die niedrigeren Grenzwerte quasi -amtliche Bestätigung. Deshalb wies das Düsseldorfer Ministerium die Forderung der nordrhein-westfälischen Grünen, für eine Veröffentlichung der Broschüre wenigstens in NRW zu sorgen, denn auch schroff zurück. Die Broschüre, könne wegen der „inhaltlichen Schwachstellen so nicht mitgetragen werden“, erklärte Matthiesens persönlicher Referent Buchow der taz. Das Düsseldorfer Umweltministerium werde an den Grenzwerten des Bundesgesundheitsamtes festhalten. Der Kampf um die Broschüre wird als „Expertenstreit“ ohne praktische Relevanz abgetan. Allerdings belegt das oben zitierte Schreiben des Düsseldorfer Arbeitsministeriums, daß die tatsächliche Dimension den Beteiligten intern längst klar ist und daß die Düsseldorfer Regierung im Konzert der Verharmloser eine tragende Rolle spielt.

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