: Über Juden und PVC
Bonn (taz) - Historische Vergleiche werden in diesem Land meistens bemüht, um Täter als Opfer zu stilisieren. Die chemische Industrie hat diese Tradition jetzt um eine neue Facette bereichert: Sie vergleicht Juden mit Kunststoffprodukten. In einer sogenannten „Protestnote“ an Umweltminister Töpfer sollen sich die Beschäftigten der Chemie-Industrie über die geplante Kennzeichnungspflicht für Kunststoffe beschweren. Originalton aus dem Text der Unterschriftenliste: „Wir Mitarbeiter fühlen uns durch eine vom Staat auferlegte Kennzeichnung unserer Produkte diskriminiert und empfinden diese Kenzeichnung wie einen David-Stern.“
Initiiert wurde dieses Kampagne nach Recherchen des Grünen -Politikers Dietrich Wetzel von der „Arbeitsgemeinschaft PVC und Umwelt“. Zu den Finanziers dieses Lobby-Vereins gehören laut Wetzel unter anderem die PVC-Hersteller Hoechst, Hüls, Solvay und Wacker.
Der chemischen Industrie kann die Kompetenz bei diesem historischen Vergleich nicht abgesprochen werden. Die IG -Nachfolgerin Hoechst weiß, wovon sie redet, wenn es um den David-Stern geht. Wenn die Erben der Täter durch ihre Opfer -Pose nun den Blick auf ihre einschlägige Tradition lenken, hat dies immerhin aufklärerischen Charakter: Wird doch sonst leicht vergessen, daß es schlimmere Vernichtung gibt als die der Umwelt.
Um die Obszönität, wie sie die Verfasser jenes Unterschriftentextes wollten, zu Ende zu denken: Auch in der industriellen Wiederverwertung der „Gekennzeichneten“ hat jene Branche Erfahrung, die jetzt unter dem Stichwort des David-Sterns über das Verhältnis von „globaler Gattungskennzeichnung“ und „gemischter Verarbeitung“ philosophiert.
Der Verband der Chemischen Industrie war übrigens gestern für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Die Vergangenheitsbewältiger waren kollektiv auf Betriebsausflug - in die Umwelt.
Charlotte Wiedemann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen