: Polarisierung im Warschauer Pakt
■ „Eigener Weg sozialpolitischer Entwicklung“ und ungarische Reform
Die Differenzen in der Entwicklung der „sozialistischen“ Länder sind inzwischen auch auf einem Gipfeltreffen kaum mehr zu überbrükken. Wenn sich Gorbatschow und Ceausescu wie das rumänische Parteiorgan berichtet - wechselseitig ihrer „Besorgnis“ über die Entwicklung im jeweils anderen Land versichern, so ist das durchaus berechtigt. Die sowjetischen Reformer müssen fürchten, daß der absehbare Zusammenbruch der byzantinischen Diktatur des Ceausescu -Clans zu unkontrollierbaren Entwicklungen in dieser an Konflikten nicht gerade armen Gegend führt.
Auf der anderen Seite wird die rumänische Führung mit jedem Reformfortschritt in anderen sozialistischen Ländern immer deutlicher isoliert und als fossiles Gruselstück aus dem Museum gescheiterter Gesellschaftsformationen kenntlich. Doch der entscheidende Konflikt spielt sich nicht zwischen diesen Ländern ab, weil die rumänische Politik eben indiskutabel und deshalb für die Suche nach der Zukunft des Sozialismus irrelevant ist. Der tatsächlich entscheidendende Konflikt, der in den letzten Monaten erheblich an Dynamik gewonnen hat, besteht zwischen Ungarn auf der einen und der tschechoslowakischen und der DDR-Führung auf der anderen Seite.
Nachdem der tschechoslowakische Ideologie-Sekretär Fojtek im vergangen Monat in der Sprache von 1968 öffentlich über „konterrevolutionäre Bestrebungen“ in Ungarn geklagt hat und das Politbüro der SED in seinem Bericht an das letzte ZK -Plenum seine „Sorge“ über die ungarische Entwicklung zum Ausdruck brachte, ist es praktisch auszuschließen, daß Ungarn auf dem Gipfeltreffen nicht eines der entscheidenden Themen gewesen sein soll.
Die Ängste der Konservativen kommen ja auch nicht von ungefähr, sind doch dort in den letzten Monaten die Weichen zu einer echten Demokratisierung des Systems, die weit über die gegenwärtige sowjetische Perestroika hinausgeht, gestellt worden: Mehrparteiensystem, Verzicht auf die institutionalisierte Führungsrolle der Kommunistischen Partei, Abschaffung der Nomenklatura und parlamentarische Demokratie sind die Stichworte. Aus Sicht der Konservativen ist das die Konterrevolution.
Vor diesem Hintergrund ist es zu sehen, daß in der Abschlußerklärung die an sich nicht neue These bekräftigt wird, jeder Staat habe das Recht, „seinen Weg der sozialpolitischen Entwicklung frei zu wählen“. Und wenn Gorbatschow zudem auch noch davon sprach, daß er hoffe, die Politik der Perestroika könne anderen als Beispiel dienen, so besagt das: Die sowjetische Führung ist von ihrer Politik der vorsichtigen Zurückhaltung und der Nichteinmischung ein Stück abgerückt. Der Konflikt ist nicht mehr länger zu vertuschen. Gorbatschow hat sich - trotz des sowjetischen Interesses an Stabilität im eigenen Vorfeld - auf Seiten der Ungarn geschlagen. Der Grund dafür liegt gewiß nicht zuletzt darin, daß, solange die Konservativen in Rumänien, der Tschechoslowakei und der DDR die Führung innehaben, eine Reform des RGW, die die Reform in der Sowjetunion außenwirtschaftlich abstützen würde, nicht durchsetzbar ist. Die sich daraus ergebenden Interessenkonflikte drängen trotz allen Respekts vor dem jeweils „eigenen Weg“ - zu einer offenen politischen Auseinandersetzung.
Walter Süß
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