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Kirche kämpft gegen Resignation in der DDR

■ Appell an Ausreisewillige, in der DDR zu bleiben / Forderung nach Reiseerleichterungen und Änderung des Wahlrechts / 'Spiegel‘: Bald Lockerung der Reisebestimmungen / Scharfe Kritik an der DDR-Staatsführung auf dem alternativen „Statt Kirchentag“ in Leipzig

Leipzig (dpa) - Auf dem Kirchentag in Leipzig haben sich Bischöfe und Seelsorger dafür eingesetzt, gegen Resignation in der DDR zu kämpfen, damit die Leute im Lande bleiben und die Probleme aktiver angehen und lösen helfen. Konsistorialpräsident Manfred Stolpe betonte am Sonntag vormittag vor 4.000 Menschen auf dem Leipziger Messegelände unter langem Beifall, er sei sicher, die Mehrheit wolle „eine bessere DDR haben, nicht eine kapitalistische DDR“. Der Ostberliner Bischof Gottfried Forck sagte, durch das Recht auf Reisen in den Westen für alle könne die Ausreiseproblematik gelöst werden.

Der DDR-Staatsapparat scheint dazu bereit, diesen Wünschen etwas entgegenzukommen. Wie der 'Spiegel‘ meldet, sollen Westreisen auch DDR-Bürgern erlaubt sein, die keine Verwandten in der BRD haben. Allerdings stehe noch nicht fest, wann die Neuregelung in Kraft trete.

Auch die Differenzen bei den letzten Kommunalwahlen und die Forderung nach einem durchschaubaren Wahlsystem in der DDR wurden auf dem Kirchentag angesprochen. Stolpe sprach sich gegen staatliche „Geheimniskrämerei“ aus und schlug vor, künftig bei Wahlen an jedem Wahllokal schriftlich und für jedermann sichtbar das jeweilige Ergebnis anzuschlagen.

Der sächsische Landesbischof Johannes Hempel äußerte sich auch auf Fragen zum Verhältnis Staat-Kirche. Die Gespräche seien schwieriger geworden, das Verhältnis jedoch „nicht kaputt“. Als Gründe für die Probleme nannte er auch die Veränderungen in den sozialistischen Nachbarländern und die Tatsache, daß die junge Generation ihre Forderungen jetzt „laut und deutlich“ stelle.

Zu den wichtigsten Themen der Arbeitsgruppen zählte die Ausländerfeindlichkeit in der DDR und in der Bundesrepublik. Diesen Tendenzen wurde eine deutliche Absage erteilt. Alle Bürger wurden zu mehr Solidarität und fairem Umgang mit Ausländern aufgerufen. Ein besseres Verhältnis zwischen der DDR und Israel sowie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen forderte eine Arbeitsgruppe in einem Schreiben an den DDR -Staats- und Parteichef Erich Honecker.

Die zunehmende Welle von Übersiedlungen in die Bundesrepublik, wo in diesem Jahr über 60.000 Menschen aus der DDR erwartet werden, wurde auf einem Podiumsgespräch in der überfüllten Thomaskirche offen erörtert. Die Kirche, so hieß es, sei auch deshalb in Sorge, weil immer mehr Menschen von ihr Hilfe für die Ausreise verlangten und für ihre Forderungen auch auf die Straße gingen, vor allem in Leipzig. Altbischof Albrecht Schönherr sagte: „Hier wird jeder Christ gebraucht.“ Der Theologe und Historiker Karl -Heinz Blaschke nannte als Ursachen für Resignation in der DDR die „Unmündigkeit durch Bürokratie“, die Verschlechterung der allgemeinen Lebenslage und unzureichende Reisemöglichkeiten.

Zum Teil schärfer als Kirchentagsvertreter äußerten sich Bürgerrechts- und Friedensinitiativen zu gesellschaftlichen Themen auf einem alternativen „Statt Kirchentag“ in der Leipziger Lukaskirche. Einer der Gäste war der SPD-Politiker Erhard Eppler. Bei der Diskussion zum „europäischen Haus“ sprach er sich für Toleranz und kulturelle Vielfalt aus. DDR -Vertreter meinten, daß das gemeinsame europäische Haus keine trennende Mauer benötige. Kirchennahe Gruppen forderten zu Gesprächen zwischen den Kirchen und dem DDR -Staat auf, um eine Wahlreform zu erreichen. Die jetzige Situation sei „unerträglich“, hieß es.

Menschenrechtsgruppen haben in einem offenen Brief aus Anlaß des Kirchentages über zunehmende staatliche Repression und die Verletzung von Bürgerrechten Klage geführt. Es heißt in dem Schreiben: „Mit großer Besorgnis beobachten wir die seit Wochen offen zutagetretende Gewalt staatlicher Organe in Leipzig.“ Gemeint sind Schweigemärsche und andere Protestaktionen in der Messestadt, bei denen es in letzter Zeit zu vielen Festnahmen und nach Angaben Betroffener auch zu Gewalt und Schlägen durch die Polizei kam.

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