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„Euer Präsident, unser Premier“

Unter diesen Titel stellte Adam Michnik seinen Leitartikel in der 'Gazeta Wyborcza‘ vom 4. Juli 1989 zur aktuellen Situation in Polen  ■ D O K U M E N T A T I O N

In der nächsten Zeit wird die Gestalt der politischen Ordnung in Polen festgelegt werden. Bisher hat die Frage nach der Person des Präsidentschaftskandidaten am meisten Emotionen ausgelöst. Es ist aber schlecht, daß in einer solchen Situation Erinnerung und Rhetorik die Oberhand gewinnen. Versuchen wir, uns die Lage ruhig anzusehen und darauf zu antworten: Welche politische Ordnung braucht Polen in den nächsten Monaten und Jahren?

Die wirtschaftliche Lage ist katastrophal. Unserem Land drohen gesellschaftliche Umbrüche und Unruhen. Der überwältigende Sieg von Solidarnosc bei den Wahlen beweist, daß die Polen grundlegende Veränderungen wünschen. Die gleiche Bedeutung haben immer wieder Stimmen, die von einer eventuellen Kandidatur Lech Walesas für das Präsidentenamt sprechen.

Was antwortet darauf der Vorsitzende von Solidarnosc? Er erinnert an die Realia der internationalen Lage und an unsere innenpolitische Realität. Er erinnert an die Nachbarn Polens im Osten, Westen und Süden. Er erinnert an die Entscheidungsträger des Machtapparats (Innen- und Verteidigungsministerium) in Polen. Betrachten wir diese Bedingtheiten näher.

In unserem Teil der Welt dauert ein heftiger Konflikt gegen den totalitären Kommunismus und seine Verteidiger an. Es ist ein wesentliches Moment unserer Zeit, daß in der UdSSR ein Prozeß der Entstalinisierung stattfindet. Die dortigen Veränderungen, das Ergebnis des Drucks antitotalitärer Kräfte, halten dazu an, festzustellen, daß das gemeinsame Ziel des polnischen Volkes und der Völker der UdSSR die Überwindung des stalinistischen Erbes, der Aufbau einer neuen demokratischen Ordnung ist. In der UdSSR werden nach wie vor wirtschaftliche Marktmechanismen gesucht und Methoden der Entkollektivierung der Landwirtschaft. Sie erwecken nationale Kulturen und das Streben der Menschen nach Freiheit und Würde zu neuem Leben.

Ist der Sinn der polnischen Anstrengungen nicht der gleiche? Und ist das nicht eine gemeinsame Ebene unserer gemeinsamen Interessen? Deshalb stehen die Veränderungen in Polen nicht im Widerspruch zu den Interessen eines jeden Volkes der UdSSR oder des russischen Volkes - sondern im Widerspruch zum totalitären System des Kommunismus stalinistischer Prägung. Stimmen, die heute in Polen ein Russenressentiment heraufbeschwören und die dann von Beobachtern so angestrengt registriert werden, diese Stimmen sind Ausdruck von Desorientierung oder ganz einfach von Provokationen, organisiert von Reformgegnern.

Anders als in der DDR oder in der CSSR. Dort werden sowjetische Zeitungen konfisziert und reformerische Bestrebungen unterdrückt.

Was ist Polen, betrachtet von Moskau aus? Ein großes und wichtiges Laboratorium, das den Versuch unternimmt, von einem totalitären zu einem System parlamentarischer Demokratie zu gelangen. Entweder wird unser Erfolg die Tendenzen einer Rückkehr zum Stalinismus in Moskau mit beseitigen helfen, oder unsere Niederlage wird sie gerade noch befördern.

Auf welche Weise kann eine demokratische Bewegung die stalinistische Nomenklatura ohne Revolution und Gewalt überwinden? Ich finde, nur durch ein Bündnis der demokratischen Opposition mit dem reformerischen Flügel des Machtapparats. Polen steht vor einer solche Möglichkeit. Bedenken wir: Es ist nicht einfach, den totalitären Kommunismus hinter sich zu lassen. Bisher hat das noch keiner geschafft. Wir müssen folglich etwas Präzedenzloses unternehmen.

Polen braucht heute ein starkes und glaubwürdiges Machtsystem. Nur äußere Veränderungen genügen nicht. Auch nicht das Ersetzen des einen durch den anderen Präsidentschaftskandidaten. Deshalb stelle ich fest: Das Ausbreiten persönlicher Vor- oder Nachteile der Generale Kiszczak oder Jaruzelski ist der falsche Weg. Beide habe ich über Jahre öffentlich angegriffen, über beide könnte ich heute eine Menge positiver Dinge sagen: Doch es geht nicht um die Personen, sondern um die Mechanismen.

Wir brauchen ein neues System, das von allen wichtigen politischen Kräften akzeptiert werden kann. Ein neues, das aber Kontinuität garantiert.

Ein solches System könnte sich schon in einer Vereinbarung niederschlagen, die als Präsident einen Kandidaten der PVAP vorsieht und die das Portefeuille des Premiers und den Auftrag, eine Regierung zu bilden, einem Solidarosc -Kandidaten überträgt. Solch ein Präsident würde die Kontinuität der Macht garantieren, der internationalen Verträge und der militärischen Bündnisse. Das Mandat der überwiegenden Mehrheit der Polen wäre so einer Regierung gewiß und würde eine konsequente Veränderung des politischen und wirtschaftlichen System sicherstellen. Nur ein solches Übereinkommen kann in der Praxis das Postulat einer „großen Koalition“ verwirklichen, und nur ein solches Übereinkommen hat die Chance, eine entsprechende Hilfe für den Aufbau der Wirtschaft zu erhalten. Und das wird ein Abkommen sein, das für Polen und die Welt glaubwürdig wäre.

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