: Der Computer-Dissident
■ Interview mit Professor Joseph Weizenbaum
Joseph Weizenbaum hat als Professor fürInformatik am renommierten Massachusetts Institute for Technology (MIT) und als einer der führenden internationalen Computer -Fachleute den technisch-naturwissenschaftlichen Betrieb, seine Verflechtung mit dem Militär und seine eigene Ideologie von innen kennengelernt - und ist einer seiner schärfsten und prominentesten Kritiker geworden. Der gebürtige Berliner (Jahrgang 1923) mußte als Kind jüdischer Eltern 1933 das Gymnasium verlassen und floh 1936 mit ihnen aus Nazi-Deutschland in die USA, ging dort zur Schule, wurde im Zweiten Weltkrieg in der Luftwaffe eingesetzt und studierte Mathematik. Er beschäftigte sich als einer der ersten mit der Entwicklung von Computern und Programmiersprachen und wurde 1963 an das MIT berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung lehrte - und zum Dissidenten wurde. Seit dem Vietnamkrieg ist er in der Friedensbewegung tätig und wurde zugleich Mitbegründer der „Computer Professionals for Social Responsability“ (USA) und des „Forums der Informatiker für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung“ in der BRD. 1977 erschien im Suhrkamp-Verlag die Übersetzung seines Buches Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, 1987 im Piper-Verlag der Interview-Band Kurs auf den Eisberg. Weizenbaum lehrte in diesem Sommersemester als Gastprofessor an der Frankfurter Universität. Richard Laufner sprach mit ihm anläßlich eines Vortrages an der Marburger Universität und seiner Beteiligung am friedensbewegten „Marburger Forum“ über Computer, individuelle Verantwortung, verfehlte gesellschaftliche Prioritäten und seine Rolle in der Wissenschaftler-Gemeinde.
Sie haben einmal gesagt, daß jedes Individuum so handeln muß, als ob die gesamte Zukunft der Menschheit und der Welt von ihm abhinge. Ist diese Ethik nicht sehr am Individuum festgemacht bzw. die Last der Verantwortung nicht allzu schwer für den einzelnen?
So ein Satz darf nicht aus dem Kontext gerissen werden. Ich weiß auch, daß er in einem gewissen Sinne gefährlich sein kann, indem z.B. jemand, der genau zu wissen meint, wie die Menschheit zu retten ist, sich auf diesen Satz beruft und sein Programm durchsetzen will. Aber ich will eine Haltung, die ausdrückt, daß in unserer Welt alles miteinander zusammenhängt. Es gibt kaum eine Handlung, die nicht sehr weitreichende Konsequenzen hat. Ein Satz aus der Metereologie besagt sinngemäß: Wenn ein Schmetterling in der Mitte Asiens von einem Busch aufflattert, beeinflußt das das Wetter in Chicago. Alles hängt miteinander zusammen.
Auch diese Einsicht ist gefährlich, wenn sie furchtbar ernst und zu wortwörtlich genommen wird. Zum Beispiel von einem Ideologen, der zu wissen meint, was die Welt braucht, und sie halb zerstört. Wir haben das erlebt. Auf der anderen Seite kann ich mir auch vorstellen, daß ein Mensch, der gut und moralisch handeln möchte, von einem solchen Satz gefesselt sein kann.
Sie wandten sich in diesem Zusammenhang sehr gegen den gegenteiligen Satz, also den achselzuckenden Ausspruch „Ich bin sowieso ohnmächtig und kann nichts tun“. Stecken dahinter auch biographische Erfahrungen - etwa die deutsche Tradition des Wegtauchens vor der Verantwortung nach dem Motto: „Wir haben ja nichts gewußt“?
Darüber wurde schon sehr viel geschrieben. Ein Erlebnis dazu von mir: Es gibt auf deutschsprachigem Boden ein Denkmal der SS, von dem niemand weiß. Ich stand einmal vor diesem Denkmal, da kam ein Polizist vorbei, und ich fragte ihn, wo denn das Denkmal für die SS wäre. Er hat mich fast wegen Staatsbeleidigung verhaftet. Ich habe ihm dann das Denkmal hinter ihm gezeigt, er hatte es in seiner eigenen Stadt nie gesehen. Es steht in Salzburg am Fuß der Mozart-Brücke, also nicht in einer versteckten Ecke. Dieses „Ich war nicht dabei und habe nichts gewußt“ gibt es also heute noch, und dieses Phänomen existiert auch in Amerika...
Speziell auch in Wissenschaftler-Kreisen?
Nicht nur in Wissenschaftler-Kreisen. Diese Scheuklappen, diese Art Privatleben, bei dem das, was meinem Nachbarn oder - biblisch gesprochen - meinem Nächsten passiert, mich nichts angeht, ist sehr weit verbreitet. In den großen Städten Amerikas, Boston, New York, Chicago usw., ist es tatsächlich schwierig, die Obdachlosen, die Familien mit Kindern, die auf der Straße leben, nicht zu sehen. Aber trotzdem werden sie von den allermeisten übersehen. Der Justizminister konnte vor wenigen Jahren sagen, daß niemand in Amerika hungert. In der Welt ist eine Angst verbreitet, die einfachsten Wahrheiten zu erkennen, zum Beispiel die große Armut, die neben dem Luxus existiert.
Wie ist das speziell bei den Naturwissenschaftlern? An dem Institut, wo Sie tätig sind, werden ja Forschungen mit wahnsinnigen militärischen Folgen betrieben - das Pentagon geht dort ein und aus. Wie geht denn die Wissenschaftler -Gemeinde damit um? Es gibt ja alle möglichen Formen der Selbstlegitimation, also Sätze wie: „Die Wissenschaft ist neutral, die Anwendung ihrer Ergebnisse liegt nicht in meiner Macht“ usw.
Eine Debatte über solche Fragen existiert kaum. Wenn man darauf hinweist, hat man die übliche Liste von Ausreden, die auch schon uralt ist - Sie haben sie gerade erwähnt. Dazu gehört auch der Satz: „Wenn ich es nicht mache, macht es jemand anderes“ oder „Das kann für Gut und Böse benutzt werden“. Ich denke in diesem Zusammenhang immer an das Buch von Wernher von Braun Ich ziele nach den Sternen, I aim for the stars. Das sollte ganz bestimmt den Untertitel haben: „Aber ich treffe London“. Wernher von Braun ist in gewissem Sinne ein Beispiel. Er dachte, daß sein Tun mit der Rettung der Menschheit zu tun hätte durch die Möglichkeit, zu den Sternen zu gelangen. Im Namen dieses Wunsches hat er sich während der Kriegszeit die Arbeiter angesehen, die unten im Tunnel zwei bis drei Monate an den Raketen arbeiteten - solange dauerte es, bis sie verhungert waren. Dann kamen neue Arbeiter. Das hat er auch gesehen.
Ich kann nicht für alle Wissenschaftler in Amerika, schon gar nicht für die in der ganzen Welt sprechen. Aber für die, die ich im MIT kenne: Viele sind der Überzeugung, sie machten nur das, was sie ohnehin machen wollten, daß das Pentagon ihnen also nicht reinredet. Aber sie arbeiten an Waffensystemen wie SDI oder noch viel schlimmeren Sachen. Das - so sagen sie - sei für Gut oder Böse verwendbar oder sei nur Grundlagenforschung; man müsse seine Familie ernähren oder sein Haus bezahlen - so sagen viele. Es gibt nur wenige, die erklären, daß sie an Feinde glauben, gegen die man sich verteidigen müsse.
Wie reagiert denn die Wissenschaftler-Gemeinde auf Personen wie Sie? Sind Sie da Außenseiter oder willkommenes Alibi?
Vor wenigen Jahren gab der Präsident des MIT, Dr. Grey, dem französischen Magazin 'L'Express‘ ein viele Seiten langes Interview. Am Ende, also auf der letzten Seite, fragte ihn der Reporter: „Manche Sachen, die Sie im MIT machen, haben doch soziale Auswirkungen und können auch gefährlich sein. Denken Sie daran?“ Da kam sofort die Antwort: „Ja, wir haben den Professor Weizenbaum, der die ganze Zeit an diese Sachen denkt!“ Ich weiß, daß ich da eine Alibi-Funktion habe. In einer anderen Zeitschrift - ich glaube, es war der 'Observer‘ - wurde ich der „House-Nigger“ genannt, also wie bei einer Rechtsanwaltspraxis, die ihre Liberalität dadurch zeigt, daß sie einen Schwarzen beschäftigt, der der „House -Nigger“ ist. Ich könnte mir denken, daß es hier in der Bundesrepublik Rechtsanwaltspraxen gibt, die einen Haus -Juden haben. Diese Rolle spiele ich, das weiß ich. Aber ich spiele sie nicht schüchtern und lasse mir auch nicht sagen, wie man diese Rolle spielt - das ist das Erste. Zweitens gilt die Situation, wie ich sie beschrieben habe, nicht universal. Ganz besonders die Physiker - natürlich nicht alle - haben ein Bewußtsein von Verantwortung. Das ist eine große Hilfe.
Nach der Studenten- und Hochschulrevolte der sechziger Jahre spielten eher Sozial- und Geisteswissenschaftler eine führende progressive Rolle. Im letzten Jahrzehnt sind in der BRD zunehmend Naturwissenschaftler gesellschaftskritisch geworden. Haben Sie diesen Eindruck auch gewonnen?
Ich weiß nicht, ob sich die Zahlen geändert haben. Aber jedenfalls könnte man es in Deutschland dadurch erklären, daß die Naturwissenschaftler gehört werden, wenn sie etwas sagen. Das erklärt aber nicht alles. Viele Naturwissenschaftler haben heute ein Bewußtsein von den Folgen und der Gefährlichkeit ihrer Forschungen. Das gilt auch für die Biologen. Was da mit Genetic Engeneering gemacht werden kann und vorgeschlagen wird, ist horrend, im Vergleich dazu ist die Atombombe fast eine Kleinigkeit. In einem militärischen Magazin wurde von einem Biologen der Vorschlag gemacht, Pathogene künstlich so zu verändern, daß sie nur für eine bestimmte Rasse gefährlich sind. Das ist selektiver Völkermord ohne Eichmann, Schienen und Verwaltung. Daß ein Mensch daran denken kann, ist schon eine Katastrophe. Dann wird es sogar noch ernst genommen und in einem Magazin abgedruckt.
Die Naturwissenschaftler - vor allem die Physiker - sind in der Lage, Probleme und Gefahren zu erkennen und zu reagieren. Leider haben die Sozialwissenschaftler nicht sehr viel geholfen, also keine neuen gesellschaftlichen Mittel vorgeschlagen, die uns helfen könnten. Wir sind in den Einsichten, wie man sich organisieren kann, nicht viel weiter als die Bergpredigt gekommen.
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