: Peinliches Erschrecken-betr.: "SEW-Mitglied entzweit Lehrergewerkschaft", taz vom 5.7.89
Betr.: „SEW-Mitglied entzweit Lehrergewerkschaft“, taz vom 5.7.89
Welch eine Überraschung: Die taz, die sich ansonsten so gut wie nie um Gewerkschaftspolitik kümmert, hält es für opportun, in die allgemeine Hatz gegen die neue GEW -Vorsitzende miteinzustimmen, nur weil diese sich zu ihrer SEW-Mitgliedschaft bekannt hat. Dieser Vorgang verdient um so mehr Beachtung, als er einhergeht mit einigen plumpen Behauptungen und Verdrehungen, die in dieser apodiktischen Form nicht unwidersprochen bleiben soll.
Beginnen wir mit der kolossalen Überschrift. Dieser Titel unterstellt in Form des Faktischen, was erst zu beweisen wäre. Müßte es nicht eher heißen: Lehrergewerkschaft über SEW-Mitgliedschaft entzweit. Will sagen: Die Subjekt-Objekt -Relation sollte schon den Tatsachen entsprechend grammatisch verwendet werden. Aber dies nur nebenbei, denn überhaupt scheint der Autor mit der formalen Logik seiner Beweisführung in einer ständigen Fehde zu liegen, was zum einen sicherlich seiner auffälligen Faktenignoranz geschuldet ist, zum anderen aber auch Denkstrukturen freilegt, die durch ihre Schlichtheit peinlichen Schrecken hervorrufen.
So zum Beispiel in dem Kommentar „Letzte Chance für SEW“, ebenfalls von Gerd Nowakowski: (...) „Es geht darum, ob die SEW zu einer demokratischen Auseinandersetzung und Veränderung fähig ist.“ Jeder denkende Mensch erwartet nun auf diese wahrlich interessante Frage eine Antwort oder Einschätzung. Doch weit gefehlt, denn der Autor fährt mit einem neuen Satz fort: „Die Partei hat in dieser Stadt nie eine Rolle gespielt.“ Was für ein Übergang, glaubt der Autor, sich so des Problems entledigen zu können? Aber Papier ist geduldig, und wer einmal diese „Eselsbrücke“ betreten hat, findet keinen Weg mehr zurück - und weiter gehts in wilder Fahrt.
Wie kann eine Partei, die nie eine Rolle gespielt hat, für so viel Furore in einer Gewerkschaft sorgen? Welche Rolle spielte oder spielt denn die SEW in der Friedensbewegung, in der Mieterbewegung oder im Antifa-Bündnis? Kann uns der Autor darauf eine Antwort geben? Nein, denn wider besseres Wissen plaudert er die Lummersche Erkenntnis aus: Von der SED ferngesteuert. Welch eine Weisheit, man möchte applaudieren, aber es kommt noch dicker, ähnlich dem Pausenclown, der gegen Ende seines Auftritts immer noch eins draufzusetzen versteht, sucht und findet unser „Don Quijote“ sein nächstes Fettnäpfchen.
„Zwar war das öffentliche Eingeständnis der SEW -Mitgliedschaft von Frau Uesseler-Gothow ein Novum, doch ausreichend kann das nicht sein.“
Ein Novum, daß ein SEW-Mitglied sich zu seiner Mitgliedschaft bekennt? Welch eine bornierte Vermessenheit, die hier in den Zynismus überschlägt. Weiß der Autor von den Berufsverboten in unserer Stadt gegen SEW-Mitglieder aufgrund ihres Bekenntnisses zur SEW? Nein, er weiß es nicht oder will es nicht wissen, statt dessen macht er sich zum Gralshüter eines Demokratiebegriffs, der in seiner Verschwommenheit und Unverbindlichkeit selbst dogmatischen Charakter trägt.
Sicherlich steht die SEW vor schwierigen Diskussionen (Demokratisierung, Stalinismusaufarbeitung, Probleme mit real existierendem Sozialismus), aber ich wäre den Redakteuren der taz sehr dankbar, wenn sie über diese Probleme mit der nötigen Souveränität eines ehrlichen Sachverstandes berichten würden, anstatt durch die hohle Phraseologie des „alten Denkens“ vor dem Götzen „Antikommunismus“ zu katzbuckeln.
Jan Nesemann
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