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Hilfe, die Deutschen kommen - Bremen in Not

■ Sozialbehörde erwartet 5.000 Aussiedler / Tausenden droht Obdachlosigkeit / Scherf fordert 1.500 Wohnungen

In Aussiedlerwohnheimen drängeln sich ganze Großfamilien in Mansarden mit Kochnische, in billigen Absteigen werden auf polizeiliche Anweisung Etagenbetten aufgestellt, Turnhallen werden zu Schlafsälen umgebaut, auf öffentlichen Plätzen, Fußballfel

dern und Spielwiesen werden mit Falthäusern und Zelten Massenunterkünfte improvisiert, durch Bremer Villenviertel schleichen Gerichtsvollzieher unter Polizeischutz auf der Suche nach freien Hobbyräumen und Dachgeschossen, in denen Feldbetten aufge

schlagen werden können. Sozialsenator Henning Scherf wendet sich in Radio-Appellen an die „lieben Bremerinnen und Bremer“ und bittet, Spätaussiedlerfamilien in Kost und Logis zu nehmen. Der Innensenator ruft derweil die ehereamtlichen Helfer von DRK, Arbeitersamariterbund und Paritätischem Wohlfahrtsverband zu Katastrophenschutzübungen. Baukolonnen werden zusammengestellt, die Stromkabel in Zeltdörfer legen und Zwischenwände in Mobilbauhäuser ziehen. Selbst die Grünen stimmen der Einrichtung von Massenunterkünften in ehemaligen Gastarbeiterbaracken zu. Der Notstand wird ausgerufen.

Ganz wahr ist dieses Szenario für Bremen noch nicht, könnte es aber bald werden. In Bremer Sozialbehörden ist die Panik jedenfalls schon ausgebrochen. 2562 - neun von zehn sind Polen - standen im letzten Jahr eines schönen Tages auf der Matte des Aussiedlerlagers in Lesum. Plätze gibt es hier für 150, 170 sind schon jetzt untergebracht. Mitgebracht haben die meisten ein Köfferchen, den festen Vorsatz, in Bremen zu bleiben, und die Hoffnung, möglichst bald eine eigene Wohnung zu finden. Die wird in Bremen als erstes enttäuscht. Selbst die letzten Wohnungen in Tenever sind vermietet, und die improvisierten Übergangswohnheime im Ellener Hof, in der Bogenstraße und in der Jugendherberge Bremen Nord platzen aus allen Nähten. Weitere

Notunterkünfte plant die Sozialverwaltung in einem ehemaligen Schwesternwohnheim in St. Magnus, in einem ehemaligen Lehrlingswohnheim der Bundesbahn und in ehemaligen Werkswohnungen des Bremer Vulkan.

Auch das wird nicht reichen. 5.000 Aussiedler-Köpfe mehr wird Bremen zum Jahresende zählen. Selbst hochgegriffene Schätzungen waren vor wenigen Monaten allenfalls von der Hälfte ausgegangen. Spätestens im Oktober müssen 2.000 neue Plätze da sein. Alle geplanten Maßmahmen eingerechnet, kommt die Sozialverwaltung bislang allenfalls auf 1.000, obwohl in den Zeitungen bereits systematisch die Todesanzeigen ausgewertet werden, um eventuell freiwerdende Wohnungen zu ergattern, und die Sozialbehörde seit neuestem sogar zwei Telefonapparate für Wohnungsofferten reserviert hat (Tel.: 3612872 und 3612651).

Mit den Hiobsbotschaften der neusten Zahlen zog Sozialsenator Henning Scherf gestern vor die zuständige Deputation. Nach mehrstündiger Sitzung verabschiedeten

die Deputierten einstimmig einen Appell an den Senat, sofort ein Programm zum Neubau von Mietwohnungen aufzulegen. Außerdem sollen öffentliche Gebäude unter keinen Umständen mehr verkauft werden, Senator Scherf soll vom Senat darüberhinaus mit allen Kompetenzen ausgestattet werden, um neue Plätze für Aussiedler aufzutun. Selbst Scherfs Pläne, ein Barackenlager im Industriehafen als Übergangswohnheim zu nutzen, verwarfen Grüne und sozialdemokratische Deputierte angesichts der neuen Zahlen nicht mehr rundheraus. Noch vor einigen Wochen hatten die Genossen von Fraktion bis Parteivorstand heftig gegen „die menschenunwürdige Ghettobildung“ protestiert und die Scherf -Pläne vorerst gekippt.

Der Senat wird am Dienstag über das geforderte Wohnungsbauprogramm diskutieren. Bisheriges Angebot von Bau und Finanzsenator: 1.000 neue Wohnungen. Ein Sprecher der Sozialbehörde: „1.500 brauchen wir mindestens“.

K.S.

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