: Kein Frieden in Kurdistan
■ Zum Mord an dem iranischen Kurdenführer Ghassemlou
In den kurdischen Bergen herrscht Trauer. Wie immer einzelne kurdische Gruppierungen politisch zu Abdol Rahman Ghassemlou standen, für die Bewohner der Berge war Ghassemlou der heimliche Herrscher im iranischen Kurdistan, der Hoffnungsträger für Frieden und ein autonomes Kurdistan, dessen erster Repräsentant Ghassemlou gewesen wäre. Der Mord in Wien, die Hinrichtung in einem Hinterzimmer, ist deshalb ein schwerer Schlag für Kurdistan. Subjektiv, weil die patriarchalischen, zum Teil noch stammesmäßigen Strukturen der kurdischen Gesellschaft den Tod des Oberhauptes noch ganz anders empfindet, als dies in den sekularisierten, funktionalen westlichen Gesellschaften der Fall ist. Objektiv, weil es neben Ghassemlou im iranischen Kurdistan kaum jemanden gibt, der seine politische Rolle nun übernehmen könnte.
Ghassemlou gehörte zu den wenigen kurdischen Politikern, die sich über ihre Region hinaus in der Weltpolitik bewegen können. Als früheres Mitglied der kommunistischen Partei und späterem Professor an der Pariser Sorbonne war er mit östlicher und westlicher Politik vertraut und in der Lage, realistisch einschätzen zu können, welche Rolle die kurdischen Gebiete geopolitisch spielen und was Kurdistan von der östlichen wie westlichen Vormacht zu erwarten hat. Gerade wegen dieser Kenntnis war Ghassemlou Realpolitiker, der wußte, daß der Traum vom eigenen Staat ein Traum bleiben wird und der seine Leute dafür nicht in den Tod schicken wollte. Trotzdem war er alles andere als ein Kollaborateur. Er hat sein Leben lang für eine Autonomie gekämpft, die den Kurden ihr Selbstbestimmungsrecht innerhalb des Iran sichern sollte. Daß er bereit war, diese Forderung auch in Verhandlungen und nicht nur mit der Waffe zu vertreten, hat ihn jetzt möglicherweise das Leben gekostet.
Damit ist die hochkomplizierte politische Situation in diesem Gebiet des Nahen Ostens noch schwieriger geworden. Denn falls sich nach dem Tode Chomeinis in Teheran eine Kräftekonstellation ergeben sollte, die nach dem Waffenstillstand im Golfkrieg nun einen Frieden für Kurdistan möglich macht, fehlt der Mann, der diese Möglichkeit umsetzen könnte. Wer immer Ghassemlous Mörder ist und mit welchem Motiv auch immer der Mord exekutiert wurde, ein Ziel wurde jedenfalls erreicht: Der Frieden ist für die Menschen in Kurdistan in noch weitere Ferne gerückt.
Jürgen Gottschlich
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen