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DER HIMMEL VOLL MADEN

■ Teatr Osmego Dnia zeigt „Höhenflug“

Natürlich regnet es an Abenden wie diesem. Das Container/Wohnmobil/Zeltdorf der Mir Caravane wirkt merkwürdig verlassen im Licht der gräßlichen Jubellampen auf der riesigen nassen Fläche der Straße des 17.Juni zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor. Aber das Versorgungszelt ist gut besucht, die Veranstaltungen zumindest dieses Tages sind so gut wie ausverkauft.

Nachts um halb elf lauscht eine nasse Masse schwermütigen Gesängen, wunderbaren Klängen aus Stimme, Violine und Gitarre. Nichts zu verstehn, aber die fremde Sprache transportiert Bilder landschaftlicher Weite, unhaltbarer Lebensumstände, großer Hoffnungen, verzweifelter Tanzlust.

Zwischen diesen vertonten Gedichten Ossip Mandelstams Szenen aus seinem beschädigten Leben, Szenen brutaler Verhaftungen, versuchter Selbstmorde, scheinheiliger Begnadigungen, alltäglichen Staatsterrors, tödlichen Hungers in Lagerhöllen.

Drei Schauspieler zeigen das alles künstlerisch formvollendet, präzise, knapp, mit leichten, gut geschulten Körpern die Beziehungen von Macht, Hohn, Vergewaltigung, Hinterlist einer- und endlose Ohnmacht andererseits erklärend. Bestechend der Kunstgriff, polnisch gesprochene Dialoge durch einen Mitspieler deutsch zu kommentieren, ohne daß der die szenische Ebene verlassen müßte.

Das Teatr Osmego Dnia aus Poznan ist 25 Jahre alt, die Produktion „Höhenflug“ wurde schon 1982 mit einem Solidarnosc-Kulturpreis ausgezeichnet, wird also seit wenigstens sieben Jahren gespielt. Die Mitglieder der Truppe haben seither Polen verlassen, wollen aber, schenkt man dem Pressetext Glauben, dorthin zurückkehren, sobald die Verhältnisse es gestatten.

Was bleibt, ist Unbehagen. Die Maske des Teatr Osmego Dnia ist die international deutbare der großen persönlichen Betroffenheit, der Effekt folkloristisch. Armes Polen, armer Ostblock. Starker, solidarischer Beifall.

Bei aufmerksamer Lektüre der gemeinsamen Erklärung der Künstler der Mir Caravane verdichtet sich das Unbehagen, daß hier nicht kalte Köpfe auf politische Wirklichkeit schöpferisch reagieren, sondern eine kleine Welt von Träumern sich feiert in einer großen, hohnlachenden Welt, die auch noch diese kleine schadlos verkraften kann.

Gegenüber vom Kassencontainer wird eine Tofu Food Performance angeboten, die auch der Feind vegetarischer Kost sich nicht entgehen lassen sollte.

Thomas Keck

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