: Streiks in der UdSSR
Bis vor kurzem hieß es noch von der sowjetischen Arbeiterschaft, sie zeige nur eine geringe Bereitschaft, ihre Interessen in offenen Konflikten durchzusetzen. Als Grund dafür wurde eine weitgehende Identifikation des Arbeiters mit dem politischen System und seinen Normen angenommen. Ein Streikrecht war bislang nicht vorgesehen und wird erst jetzt diskutiert. Ideologisch begründete man dieses Defizit damit, daß es zwischen dem Staat und den Arbeitnehmern juristisch und tatsächlch keine Diskrepanzen gebe.
In der Tat sah es so aus, als überwiege beim sowjetischen Arbeiter das Bedürfnis nach Sicherheit und Autorität. Die Staatsgläubigkeit des sowjetischen Arbeiters wurde am Anfang der Perestroika sogar für ein Hindernis gehalten, die Arbeiterklasse überhaupt für Reformen zu gewinnen. Streiks hat es dennoch seit dem Tode Stalins 1953 immer wieder gegeben. Die sowjetische Presse hat über solche Aktionen jedoch fast nur dann berichtet, wenn diese Aktionen sich nicht mehr vor der Öffentlichkeit verheimlichen ließen. Ursachen derjenigen Streiks, die sich zu Massenprotesten entwickelten, waren fast immer die schlechte wirtschaftliche Lage, miserable Lebensbedingungen und niedrige Löhne.
In einem System, das jegliche Form sozialen Widerstands kontrolliert und in den offiziellen Apparaten der Konfliktschlichtung kanalisiert, gewannen die Streiks auch dann politische Qualität, wenn sich die Forderungen der Arbeiter auf die Verbesserung ihrer sozialen und ökonomischen Lage beschränkten. Auch die jetzigen Streiks im Kuznezker Kohlerevier entzündeten sich an den klassischen ökonomischen Mißständen.
Doch die neuen Formen politischer Auseinandersetzung unter Gorbatschow haben Wirkung gezeigt. Die Arbeiter fordern, an den Entscheidungen ihres Arbeitsprozesses beteiligt zu werden. Indem sie verlangen, die Betriebe und Unternehmen auf eigenständige Wirtschaftsführung umzustellen, greifen sie eine zentrale Forderung der Perestroika auf, deren Durchsetzung immer noch durch den Wasserkopf der zentralisierten Bürokratie torpediert wird. Zusätzliche Dynamik erhält die Streikbewegung durch die neue Öffentlichkeit. Wurden die Streikwelle zwischen '61 und '63 sowie die blutige Niederschlagung der Aufstände von Nowotsherkassk damals erst kürzlich in der Presse thematisiert, so berichteten jetzt die Medien von Anfang an über den Ausstand.
Die durch Glasnost geschaffene Veränderung befördert nicht zuletzt sowohl die Information als auch die Solidarisierung zwischen den Betrieben und innerhalb der Bevölkerung. Dem bisher „atomisierten“ Arbeiter bietet sich zum ersten Mal
die Chance zu einer übergreifenden Interessenvertretung. Ähnlich wie beim Nationalitätenkonflikt sind die spontanen Streikaktionen ambivalent. Lösen sie zum einen zentrale Anliegen der neuen Politik ein, so destabilisieren sie andererseits das System und gefährden damit auch den Erfolg der Perestroika.
Der Konflikt vor 26 Jahren in Nowotscherkassk endete mit mit dem rücksichtslosen militärischen Einsatz ortsfremder Truppen. Diesmal gilt - jedenfalls bislang noch Ministerpräsident Ryschkows Versprechen, die Streikwelle in keinem Fall gewaltsam zu beenden.
Klaus-Helge Donath
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