: „Dichter! In euren Büchern sei euer Herz...“
■ Die Freiheit des Einzelgängers - Zum 100. Geburtstag von Karl Otten
Siegbert Wolf
Ich (bin) ein Mensch, der sich den Arbeiten widmet, die er seinen Freunden zuliebe unternimmt. Diese Freunde sind, wie ich selber, Opfer des Nationalsozialismus, und ich habe vor ihnen nur den einen Vorzug voraus, noch am Leben zu sein, ein Zustand, der für mich identisch ist mit der Verpflichtung zur 'geistigen Wiedergutmachung‘. Dieser Verpflichtung glaube ich damit am besten nachkommen zu können, daß ich die Arbeiten dieser vergessenen Dichter rette. Daß dies meine überwiegende Sorge ist, mag Schicksal sein, mir ist es Lebensaufgabe, die, wie aus der Antwort der Freunde und der Presse hervorgeht, nicht umsonst geleistet wurde. Meine persönliche Eitelkeit ist äußerst schwach entwickelt, woraus sich schon meine Zurückhaltung oder Scheu vor einer Darstellung meines Lebens erklärt. Ich bin weit eher zur Umsetzung des gelebten Lebens in objektive Arbeit geneigt, statt mich der Kunst zu widmen, einem Eisläufer gleich, den dunklen Stellen des Lebensteiches auszuweichen.“
Diese Worte Karl Ottens im Oktober 1961, eineinhalb Jahre vor seinem Tod niedergeschrieben, verdeutlichen, wie sehr sich dieser dem Andenken der in Vergessenheit geratenen Literatur seiner Freunde und Mitstreiter verpflichtet fühlte. Er gehörte neben Kasimir Edschmid, Hermann Kasack und Kurt Pinthus zu den wenigen, den Nationalsozialismus überlebenden Expressionisten, die das verschüttete literarische Gut ihrer Generation aus der Asche hervorholten und wieder zugänglich machten. In minuziöser und von einer detaillierten Kenntnis der deutschen Literatur zeugenden Arbeit gab Otten, seit 1944 erblindet, zusammen mit seiner zweiten Frau Ellen mehrere Anthologien jüdischer und expressionistischer Prosa heraus - Ahnung und Aufbruch (1957), Das leere Haus. Prosa jüdischer Dichter (1959), Schrei und Bekenntnis (1959), Schofar. Lieder und Legenden jüdischer Dichter (1962), Expressionismus grotesk (1962), Ego und Eros. Meistererzählungen des Expressionismus (1963) - und entriß sie damit der Ausrottungspolitik des deutschen Faschismus. Dennoch erlitt Karl Otten das gleiche Schicksal wie viele seiner SchriftstellerkollegInnen, um deren literarischen Nachlaß er sich bemühte und geriet schon bald nach seinem Ableben am 20.März 1963 in Vergessenheit.
Wer verbarg sich hinter diesem „Seelenhirten des Expressionismus“, wie der unermüdliche „Schatzgräber“ Karl Otten liebevoll genannt wurde? In seinem ersten, 1918 erschienenen Gedichtband Die Thronerhebung des Herzens kennzeichnete er seine gesellschaftlich-literarischen Bemühungen wie folgt: „Dichter! In euren Büchern sei euer Herz!...Allen Herzen ist dein Herz im gleichen Schlag verbunden...Wir müssen unsere Herzfackeln anzünden...Keinen anderen Gedanken haben als den: wie rette ich die Menschheit.“
Der am 29.Juli 1889 in Oberkrüchten bei Aachen geborene Karl Otten wuchs auf im kaiserlichen, nach Weltmacht strebenden Deutschland WilhelmsII. In München, Bonn und Straßburg studierte er Sozialwissenschaften und Kunstgeschichte. In der bayrischen Landeshauptstadt schloß er sich dem 'Sozialistischen Bund‘ des Anarchisten Gustav Landauer an und wirkte in der dortigen Gruppe 'Tat‘ zusammen mit Erich Mühsam, Franz Jung, Leonhard Frank, Georg Schrimpf, Oskar Maria Graf und Otto Gross. In seinem autobiographen Roman Wurzeln (1963) ist diesen libertären Bemühungen, ausgerichtet auf die Schaffung der Grundformen einer humanen, freiheitlich-sozialistischen und staatslosen Gesellschaft, ein erinnerndes Denkmal gesetzt. Persönliche Kontakte knüpfte er des weiteren auch zu den Vertretern des rheinischen Expressionismus: August Macke, Max Ernst und Franz Marc.
Nicht nur in politischer, sondern auch in künstlerischer Hinsicht gestalteten sich besonders diese Jahre unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg richtungsweisend. Als ein aufmerksamer und kritischer Zeitgenosse registrierte er die zunehmende Kriegsgefahr mit wachsender Besorgnis. über seine intensiven Erlebnisse und Erfahrungen auf einer Balkanreise, die ihn 1912/13, unterwegs nach Griechenland, zu Fuß durch Montenegro und Albanien führte, schrieb Otten den 1913 erschienenen Prosatext Die Reise nach Albanien.
Geprägt von der Literatur Stendhals, Flauberts, Stefan Georges, Dostojewskijs, Rimbauds, Verlaines, Walt Whitmans sowie der Freundschaft mit Erich Mühsam - durch den er mit anarchistischem Gedankengut in Berührung gelangte -, Franz Pfemfert, Robert Musil, Franz Blei, Heinrich Mann, Carl Sternheim und dem Psychoanalytiker Otto Gross verweigerte Karl Otten 1914 den Kriegsdienst - Festungshaft war die Folge. Eine konsequente pazifistische, antinationalistische Grundhaltung sowie der Kampf gegen Militarismus und Krieg durchzogen sein gesamtes Leben. Während des Ersten Weltkrieges schrieb er hoffnungsvoll:
„Es gibt, daran zweifelt niemand, der
Leid erfuhr, eine Menschheit, einen Glauben,
eine Liebe, die stärker ist als Kano nen, Panzerschiffe,
Staatsgesetze, Grenzen!
Wir sehnen uns alle danach.
Wir sehnen uns nach Menschlich keit.
Wir wünschen den Tag herbei, wo wir
gütig, gläubig, dumm, einfältig, schön sein dürfen...
Der Sieger in diesem Kriege ist der Geist, der Glaube,
die Menschheit.“
Enthusiastisch setzte er sich während der deutschen Revolution 1918/19 für einen geistig-kulturellen Neubeginn ein und stellte sowohl den sozialdemokratischen als auch den kommunistischen Machtpolitikern seinen libertären Sozialismus entgegen.
Die zwanziger Jahre bedeuteten für Karl Otten eine überaus produktive, fast hektische Schaffensphase, die ihn als einen führenden expressionistischen Schriftsteller auswiesen. Es entstanden unter anderem die (auch heute noch lesbaren) Romane Prüfung zur Reife (1928), Eine gewisse Viktoria (1930), Der Schwarze Napoleon. Toussaint Louverture und der Negeraufstand auf San Domingo (1931), Der unbekannte Zivilist (1932), des weiteren ein Drama sowie das Drehbuch zu G.W. Pabsts 1931 realisiertem Film Kameradschaft. Hinzu kam die journalistische Mitarbeit an zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften.
Im März 1933 floh der parteiungebundene, freiheitliche Sozialist Karl Otten vor seinen Häschern aus Deutschland, wohin er nie wieder zurückkehren sollte. Stationen seines langjährigen Exils bildeten Paris, Mallorca und London. Von Mallorca wurde er 1936, im gleichen Jahr seiner offiziellen Ausbürgerung aus Deutschland, aufgrund einer Denunziation des deutschen Konsuls von Franco-Anhängern vertrieben. Die letzten fünf Lebensjahre verbrachte Otten zurückgezogen im schweizerischen Locarno. Trotz Erblindung gelang es ihm dank seiner Frau Ellen, sein literarisches Oeuvre, so zum Beispiel die späten Romane Die Botschaft (1957), Wurzeln (1963) sowie den 1961 veröffentlichten Gedichtband Herbstgesang, fortzuschreiben.
In den letzen Jahren bemüht man sich wieder, allerdings eher zaghaft, um das Werk dieses zu Unrecht Vergessenen. So erschien 1980 Ottens 1938 erstmals bei Bermann-Fischer in Stockholm publizierter Roman Torquemadas Schatten, der die politischen und militärischen Auseinandersetzungen mit dem in Spanien erstarkenden Francofaschismus beschreibt. In diesem den zeitgenössischen Spanienerinnerungen Ernest Hemingways, George Orwells, Augustin Souchys, Arthur Koestlers, Clara und Paul Thalmanns, Alfred Kantorowicz‘, Ludwig Renns und Andre Malraux‘ ebenbürtigen Roman schildert Otten das Leben der spanischen (wenn schon, dann 'mallorquinischen‘! d.S.) Bauern und Landarbeiter Mallorcas und behandelt aus ihrer Sicht den Untergang der jungen spanischen Demokratie nach dem franquistischen Putsch.
Bereits 1932 formulierte Otten in dem Werk Der unbekannte Zivilist. Geschiche eines Zeitgenossen seine Einstellung gegenüber dem drohenden Unheil des europäischen Faschismus. Zugleich beinhaltete dieses Buch einen letzten Versuch, sich gegen die nationalsozialistische Barbarei zu stemmen. Hierbei kam ihm sein Gespür für kommende politische Entwicklungen zugute, was sich schon in der ein Jahr zuvor veröffentlichten Prosa Der Schwarze Napoleon über Toussaint Louverture, den Befreier Haitis - ein Aufruf zur Entkolonisierung der Welt -, verdeutlichte. Das Eintreten für die Freiheit des Einzelnen stellte Karl Ottens lebenslange moralische Richtschnur dar und beschäftigte ihn in nahezu allen Prosatexten. Viele Jahre arbeitete er intensiv an einer Soziologie des deutschen Faschismus. Als Ergebnis erschien 1942 in London die Studie A Combine of Aggression. Masses, Elites, and Dictatorship in Germany, dessen Originalmanuskript in deutscher Sprache soeben zum erstenmal unter dem Titel Geplante Illusionen. Eine Analyse des Faschismus veröffentlicht wurde. Die Zielsetzung dieses Buches bezeichnete der Autor als den Versuch einer Darstellung der „Gesamterscheinung des deutschen Volkes inmitten der Welt...mit den Mitteln der Psychologie und Soziologie“. Den Nationalsozialismus begriff er als eine große Maschine, der den weitestgehenden Versuch der Gestaltung einer „tatsächlichen oder mechanistischen Weltanschauung...nach Gesetzen der Technik“ darstellte. Zwar ist Ottens Faschismusanalyse primär auf die NS-Diktatur ausgerichtet, doch zeigt sie eindrucksvoll auf, daß der nichtkontrollierte Machtzuwachs der technischen und militärischen Eliten demokratische und soziale Errungenschaften gefährdet, letztlich also ein allgemeines Problem jeder Massengesellschaft beinhaltet. In dieser Untersuchung der gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands vor 1933 sowie der Strukturen des Nazi-Regimes kam er des weiteren zu dem Ergebnis, daß erst nach der vollständigen Beseitigung des Nationalsozialismus und dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein neues, vereintes Europa möglich sein werde. Solange das Völkermorden andauere, müßten diesbezügliche Überlegungen eines modernen liberalen und sozialistischen Gemeinwesens aber unbedingt hinter dem Kampf gegen die deutsche Diktatur zurückstehen. Obzwar es Otten nur teilweise gelang, eine Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus zu liefern, liegt doch mit dieser Faschismusinterpretation eines direkten Augenzeugen eine bis heute aktuelle Schrift vor, die den deutschen Faschismus auch in den Gesamtprozeß der westlichen Zivilisation einzuordnen bemüht ist und der damit der Rang der Studien von Ernst Fraenkel und Franz Neumann gebührt.
Ebenso dienten seine Anthologien expressionistischer und jüdischer Literatur in den fünfziger und sechziger Jahren dem Widerstand gegen jegliche Diktatur und stellten eine Art geistiger 'Wiedergutmachung‘ der nach 1933 vergessenen Schriftsteller und Schriftstellerinnen dar. Engagiert beschäftigte ihn das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen, und mit deutlichen Worten prangerte er jegliche Form des Antisemitismus an.
Karl Otten erkannte, daß die Juden in Deutschland infolge ihrer tausendjährigen Symbiose mit den nichtjüdischen Deutschen bis heute einen bedeutsamen und nicht wegzudenkenden Bestandteil des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens darstellen. Ottens Verdienst liegt darin, davon Zeugnis abgelegt und die Größe und Tragik der jüdischen Literatur deutscher Sprache bewußt gemacht zu haben.
Die ethische Verpflichtung, aus der Vertreibung und Ermordung von sechs Millionen jüdischer Menschen unter dem Nazi-Regime aktive moralische und kulturelle Konsequenzen zu ziehen, gab ihm die Kraft für seine Editionstätigkeit, die 1961 mit dem Leo-Baeck-Preis ihre Auszeichnung fand.
Karl Otten ging es vor allem um die Befreiung des Menschen. Kunst sollte Spiegel und Gegner der Zeit zugleich sein. Im Rückblick auf die Bedeutung des Expressionismus formulierte er wenige Jahre vor seinem Tode: „Der magisch-politische Expressionismus ist die echte deutsche Revolution, die anstelle der mißglückten getreten ist und bleiben wird...“ Nur im Blick darauf, was der Mensch als Ganzes sein könnte und sollte, nur in der 'Utopie‘ erfüllt sich der Sinn der Kunst. 1918 schrieb Otten in Franz Pfemferts 'Aktion‘ eines seiner schönsten und ausdrücksstärksten Gedichte, Wir Utopisten. Darin heißt es:
„Die Locken der guten Herden auf dem Haupte der Mondberge
Nahe dem Herzen der grünen Erde!
Alle Menschen in Güte aus großen Herzen.
Fesselung durch Blick und Wort grundklingend
Zum Ziel, zum Ziel!
Glauben an den Born der einzigen Wahrheit in jedem wie er geboren wurde.
Wir sind alle Du und ich und nahe bei den Brüsten der Mutter.
Wir sind alle gut.
Wasser, Sonnenblume, Mensch, Gesetze, Kraft nach Vorwärts oben.
Wo ewige Währung, Seelenstille, Stand der Zeit,
Tiefster Ernst, Kind-Tod.
Ich glaube, nur dieses: ich glaube“
Karl Otten setzte auf die Freiheit, „ein Einzelner, ein Einzelgänger zu sein, der an keine Kategorie - außer der moralischen - gebunden, seine Entscheidung selber trifft. Die Entscheidung nämlich, für wen und gegen wen er seine Stimme erheben muß.“
Literatur:
Karl Otten. Werk und Leben. Texte-Berichte-Bibliographie; hrsg. von Bernhard Zeller und Ellen Otten, Mainz 1982 (Hase & Koehler Verlag). - Karl Otten, Wurzeln, Berlin 1986 (Raubdruck). - Karl Otten, Geplante Illusionen. Eine Analyse des Faschismus. Vorwort von Lothar Baier; Frankfurt/M. 1989 (Luchterhand Literaturverlag). - Karl Otten, Die Reise durch Albanien und andere Prosa; hrsg. von Ellen Otten und Herman Ruch, Zürich 1989 (Arche Verlag). - Karl Otten, Publizistik. Eine Auswahl; hrsg. von Werner Jung und Gregor Ackermann, Aachen 1989 (Alano -Verlag). - Ahnung und Aufbruch. Expressionistische Prosa; hrsg. von Karl Otten, Frankfurt/M. 1989 (Luchterhand Literaturverlag), Sonderausgabe.
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