: Als Modell immer dabei
■ Zum 20. Mal trafen sich im südfranzösischen Arles die Experten in Sachen Fotografie
Nos 20 ans - „Unsere 20 Jahre“ - unter diesem Motto trafen sich in Arles Fotografen, Galeristen, Herausgeber von Fotozeitschriften und Büchern sowie Fotoamateure aus aller Welt. Ihnen folgte die Presse, das Radio und das Fernsehen. Rund 100.000 Menschen besuchen nach Angaben der Veranstalter in den ersten drei Juliwochen Workshop , Ausstellungen, Podiumsdiskussionen und die allabendlichen Dia- und Filmvorführungen im antiken Theater. Die französischen Zeitungen schrieben täglich über die rencontres, und 'Le Monde‘ und 'Liberation‘ brachten umfangreiche Sonderteile, zumal ja auch die Fotografie selbst ihren 150. Geburtstag feiert. Große Namen hatten sich denn auch versammelt: Ralph Gibson, Lee Friedlander, Rene Burri, Yaschi Klein, Arno Minkkinen, Herlinde Koelbel, Bruce Davidson, Paulo Nozolino, Franco Fontana, Marlo Broekmans. Sie leiteten Workshops und Seminare. Viele andere kamen privat nach Arles, um Freunde zu treffen, Bilder zu sehen, Bilder zu zeigen oder auch, weil man einfach kommen muß.
Nur einer verweigerte sich: Robert Frank - lebendes Denkmal der amerikanischen Fotografie - hatte einfach keine Lust. Den extra nach New York eingeflogenen Journalisten von 'Liberation‘ erklärte er: „Arles ist ein Supermarkt für Fotografie geworden.“ Und weiter: „Ich hasse nichts mehr, als über Bilder zu sprechen.“ Er tat es trotzdem, und 'Liberation‘ brachte sieben Seiten Robert Frank. So ist er, der Abwesende, durch diesen Text, aber auch durch die merkwürdigen Bilder seines neu zusammengestellten Buches The Lines of my Hand, in Arles so präsent wie kaum ein anderer: Seine Fotos aus dem erwähnten Band sowie andere aus Les Americains und über den Süden der USA hängen in den wichtigsten Ausstellungen der rencontres.
Der Vergleich mit dem Supermarkt ist eine Untertreibung. Arles ist eine Einkaufsmetropole, deren Leben sich auf vielen verschiedenen Ebenen abspielt. Neben den offiziellen rencontres, die seit einiger Zeit von Kodak gesponsert werden, gibt es als Gegenveranstaltung das Festival off, in dessen Rahmen allabendlich gratis Dias von unbekannten Fotografen auf dem Place du forum gezeigt werden. Das Festival off wird von Agfa unterstützt. Die Fronten zwischen den beiden Veranstaltungen haben sich verhärtet: Im 'p'tit Journal de l'off‘ gibt es eine Karrikatur, in der zwei Organisatoren der offiziellen rencontres miteinander sprechen. Der eine: „Der neue Sponsor ist angekommen.“ Der andere darauf: „Dann schicken sie ihm drei Nutten in arlesianischer Nationaltracht.“
Immer wieder kritisiert wird Lucien Clergue. Als Gründer der rencontres hat er sich verdientsvoll gemacht, als Fotograf - bekannt sind vor allem seine Aktfotografien - ist er eher banal. Auf der großen Kodakparty überreichte man ihm eine meterhohe Torte, gekrönt von einem nackten Frauentorso. Pfiffe von allen Seiten, Buhrufe: „C'est null, c'est zero.“ Trotz alledem wird ihm der letzte große Diaabend im antiken Theater gewidmet, genauso wie eine wichtige Einzelausstellung. Zwei traurige Tiefpunkte der rencontres. Glücklicherweise gab es noch anderes, zum Beispiel die Ausstellung Espana oculta - „Okkultes Spanien“, Schwarzweißbilder von Festen und religiösen Riten, vorausgeahnte Bilder: die Fotografin Christina Garcia Rodero hat jeweils den entscheidenden Moment erwischt. Oder die sakralen Inszenierungen der Künstler Anette Messager und Christian Boltanski in der Kapelle von Saint-Martin-du -Mejan. Überraschend: Dennis Hopper, von dem zwar jedermann weiß, daß er schauspielern kann, dessen Fotos von Freunden und Zeitgenossen aus der Easy-Rider-Zeit aber mehr übermitteln als die meisten Bilder der Profifotografen.
Roland Schneiders Ausstellung hieß Le retour de la vie. Schneider war Insasse einer psychiatrischen Klinik und fotografierte diese, seinen dortigen Alltag und fotografierte sich schließlich gesund - ins Leben zurück. Fotografie als Therapie, Fotografie als Selbstfindung. „Bei den Selbstporträts, da geht es ans Eingemachte“, sagt Herlinde Koelbel im Porträtseminar und fordert dann den Journalisten auf, das Tonband auszumachen. Genauso schonungslos, wie sie sonst Politiker fotografiert (zu sehen in ihrem Buch Feine Leute), kritisiert sie jetzt die Bilder der Seminarteilnehmer. „Das ist oberflächlich. Das sind Urlaubsbilder, wie sie jeder macht: Es sind doch keine Selbstporträts, wenn sie sich immer wieder vor dem gleichen Hintergrund, in der gleichen starren Haltung fotografieren.“ Aber als sich dann doch einer ablichtete, nackt und schutzlos, und auch noch sagt, sie allein, mit ihrer offenen Art zu leben, hätte ihm den Mut dazu gegeben, da wird sie ganz weich und die zwei umarmen sich. Mir kommen fast die Tränen.
Auch bei anderen geht es um Selbstbildnis und Selbsterkenntnis. Marlo Broekmans, deren gemeinsam mit Diana Blok geschaffene Bilder wie Der Faden längst Klassiker lesbischer Kunst geworden sind, schickt die Teilnehmer ihres Workshops augenzwinkernd auf die Suche nach „Archetypen“, um mit Hilfe von diesen Selbstporträts zu kreieren. Yaschi Klein und Arno Minkkinen üben Inszenierung und Selbstinszenierung vor der mythischen Kulisse der Camargue -Salinen. „Das Innerste nach außen zu kehren, sich öffnen, das lernen die Leute im Workshop“, so Yaschi Klein.
Aber auch in Arles drängen sich die Tagesereignisse in den Vordergrund. Ein Höhepunkt der rencontres war die Vorführung eines gerade in diesem Sommer fertiggestellten Films über russische Fotografie. Die Autoren der französisch -russischen Koproduktion waren durch die Sowjetunion gefahren und hatten Bilder gesammelt. Fotos aus den Kindertagen der ersten Lichtbildverfahren und Fotos von heute, von Profis und Amateuren, aus Archiven und Kleiderschrankschubladen. So entstand ein Panorama sowjetischer Fotografie, die Perestroika mit eingeschlossen. Großartig, wie die Filmkamera die für unbeweglich gehaltenen Bilder präsentierte, über sie wegfuhr wie über Landschaften oder sie zum Tanzen brachte.
Und dann der Blick nach China. Im letzen Jahr hatte es Ausstellungen mit chinesischen Fotografen gegeben, die zu Besuch nach Arles kamen und Freunde wurden, und jetzt wußte man sie in Gefahr. Auf dem Rathausplatz von Arles steht auch jetzt noch eine große öffentliche Ausstellung mit Bildern vom Platz des Himmlischen Friedens. Offizielle Veranstalter und das Festival off taten sich zusammen, um gemeinsam Diashows über die Ereignisse in China zusammenzustellen. Während der Vorstellung im antiken Theater gab es eine telephonische Direktverbindung nach Peking zu einem chinesischen Fotografen. Auf die Frage, wie die Lage zur Zeit sei, kommt die Antwort: Das könne und dürfe niemand über Telephon sagen. Betroffenheit unter den Zuschauern, aber die rencontres gehen weiter.
Lobreden werden gehalten und Champagner getrunken, man knüpft Kontakte und schließt Geschäfte ab. Auch hier geht es ums Geld. Im Hof des Hotel Arlatan (Kritiker nennen es Hotel Scharlatan) zeigen Fotografen Verlegern ihre Mappen. Viel Schlechtes kommt gut an, und viel Gutes will niemand drucken. Aus dieser Fundgrube zwei Entdeckungen: zum einen die neuen Bilder von Carl de Keyzer über die Sowjetunion in der Perestroika, die bei uns in Buchform noch in diesem Herbst erscheinen werden. Carl de Keyzers Bilder über den indischen Monsun sind sicher vielen ein Begriff. Die Entdeckung des Jahres waren aber die Bilder von Herman Leonard. In den 40er und 50er Jahren fotografierte er alle Größen des Jazz. Doch diese einzigartigen Aufnahmen hat er nie veröffentlich, nie zu einer Ausstellung zusammengestellt. Ein Freund brachte ihn letztes Jahr auf die Idee, und so entstand die Serie Image of Jazz, die man hoffentlich auch in der Bundesrepublik bald als Ausstellung und in Buchform (die englische Ausgabe ist gerade erschienen) zu sehen bekommt.
Arles 1989: Selbst wenn man während der rencontres auf einer Wiese sitzt, in einem Bistro die Zeitung liest oder nachts in der Bodega (Arles‘ Disko) tanzt, so ist man doch immer umgeben von Leica- und Nikonträgern - Fotografen aus allen Ländern der Welt, die um sich knipsen. Als Modell ist man immer dabei.
Wolfram Steinberg
PS: Für alle, die dawaren und auch wissen wollen, wie die Musik des „Festival off“ hieß, die wochenlang jeder in Arles vor sich hin pfiff: Es ist der „Photo Song“ von der Platte „Der Osten ist rot„; von Holger Csukay, Virgin records 1984.
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