Vom Trost der Philosophie

■ Vor 100 Jahren wurde Ernst Reuter, der Regierende Bürgermeister der Blockadezeit geboren / Vom Vorsitzenden der revolutionären Wolga-Republik über den KPD-Generalsekretär ins Rathaus Schöneberg

Der Hilferuf vom 9.September 1948, elf Wochen nach Beginn der Blockade, hat Ernst Reuter mit einem Schlage in allen westlichen Ländern bekannt gemacht: „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt und erkennt, daß Ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt“. Reuter, Berlins Oberbürgermeister der Blockadezeit, wurde vor 100 Jahren am 29.Juli 1889 in Apenrade, damals Schleswig-Holstein heute Dänemark, geboren. Als der erfahrene Kommunalpolitiker und ehemalige Verkehrsdezernent am 24.Januar 1947 zum ersten Male an die Spitze des Magistrats von Groß-Berlin gewählt wurde, stand der Stadt die Teilung noch bevor.

Aber die Bestrebungen der Sowjets, die ehemalige Reichshauptstadt ganz in ihren Machtbereich einzubeziehen, zeichneten sich bereits ab. In Ernst Reuter vermuteten die Verantwortlichen der sowjetischen Besatzungsmacht mit Recht einen Mann, der ihnen dabei härtesten Widerstand entgegensetzen dürfte. Deshalb hoben sie mit ihrem Veto in der Alliierten Kommandantur und im Kontrollrat das überwältigende Votum der Stadtverordnetenversammlung für Reuter auf. Erst nach der Spaltung der Stadt, im Dezember 1948, wurde Reuter - nach nochmaligen Wahlen in den Westsektoren - einstimmig in seinem Amt bestätigt.

Der Argwohn der Kommunisten kam nicht von ungefähr - sie kannten Reuter nur zu gut. Er, der als Soldat 1916 verwundet in russische Kriegsgefangenschaft geraten war, schloß sich nach der Oktoberrevolution der neuen Sowjetmacht an. In einem von ihm selbst 1947 verfaßten Lebenslauf heißt es: „In meiner Eigenschaft als Erster Vorsitzender der im Juli 1918 gegründeten wolgadeutschen Republik habe ich engste Fühlung mit allen Führern der russischen Revolution gehabt.“

Nach seiner Rückkehr aus Rußland wurde Reuter Parteisekretär der KPD für den Bezirk Berlin, später Generalsekretär der Kommunistischen Partei. Im Frühjahr 1922 brach er mit der Partei. Über die damalige unabhängige Sozialdemokratie, die sich mit der SPD vereinigte, fand er den Weg zu der Partei zurück, der er sich schon einmal, 1912, als Kandidat des höheren Lehramtes angeschlossen hatte. Nach Magdeburg umgezogen, wurde Reuter 1931 zum Oberbürgermeister der Stadt und im Juli 1932 für die Sozialdemokraten in den Deutschen Reichstag gewählt.

Die Nationalsozialisten sperrten Reuter nach ihrer Machtübernahme in ein KZ unter Kriminelle ein. Aufgrund einer Amnestie entlassen, konnte Reuter noch vor einer neuen Verhaftung Deutschland verlassen. Er ging in die Türkei, wo er eine Professur für Kommunalwissenschaft an der Hochschule für höhere Verwaltungsbeamte in Ankara übernahm. Ende 1946 kehrte er nach Berlin zurück.

Die Stadt und ihre Infrastruktur waren durch die Kriegsereignisse fast völlig zerstört, als Reuter, zum Stadtrat für Verkehr, berufen, daran ging, die von ihm schon einmal in den zwanziger Jahren aufgebaute Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) neu zu ordnen. Die Berliner SPD erkannte sehr bald seine Führungsqualitäten. Der Sohn eines Navigationslehrers wurde nun der oberste Steuermann der Stadt und einte wie kein anderer vor und nach ihm die Berliner in ihrem Widerstand und verkörperte ihren Durchhaltewillen in der Blockadezeit.

Reuter gelang es, das Vertrauen der westlichen Besatzungsmächte zu gewinnen und sie in ihrem Engagement für die eingeschlossenen Westsektoren zu bestärken. Dwight D.Eisenhower, amerikanischer Oberbefehlshaber im Zweiten Weltkrieges in Europa und Miteroberer Deutschlands, schrieb als US-Präsident in einer Beileidsadresse zum Tode Reuters am 29.September 1953: „Sein hartnäckiger Widerstand gegen jede Form des Totalitarismus und die führende Rolle, die er im Kampf Ihrer Stadt und die Verteidigung der Freiheit innegehabt hat, haben mit dazu beigetragen, den Namen Berlin zu einem Symbol für alle freiheitsliebenden Menschen zu machen.“

Den Berlinern war Reuter vertraut wie kein anderer. Seine Baskenmütze war eine Art Markenzeichen, und in einer regelmäßigen Rundfunksendung ging Reuter unter dem Motto „Wo uns der Schuh drückt“ auf die vielen kleinen und großen Sorgen der Berliner ein.

Der politische Pragmatiker war aber auch ein zutiefst musischer Mensch. Er war in der antiken ebenso wie in der klassischen deutschen Dichtung und Philosophie zu Hause. Er war, wie er selbst öfter deutlich machte, von der Überzeugung durchdrungen, daß den Menschen neben der Sicherung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Existenz der Zugang zu den geistigen und kulturellen Gütern der gesamten Menschheit geöffnet werden müsse. Sie allein machten das Leben wirklich lebenswert. Dem Toten wurde eines seiner Lieblingsbücher, in dem er zuletzt gelesen hatte, der „Trost der Philosophie“ des römischen Staatsmannes und Denkers Boethius (um 500n.Chr.) in den Sarg gelegt.

Wolfgang Marquardt/dpa