: Kampf gegen die Atomschmiede vor der Tür
Jahrzehntelang war die Bevölkerung des US-Städtchens Fernald im Bundesstaat Ohio ahnungslos / Uranverarbeitungsanlage schaute so harmlos aus Erst erhöhte Krebsraten machten Bürgerinitiative mobil / Unglaubliche Schlampereien bekannt / Jetzt: 73 Mio. Dollar für „Streß und Wertverlust von Eigentum“ ■ Aus Washington Silvia Sanides
Es war eine spektakuläre Aktion: FBI-Agenten und Untersuchungsbeamte der Bundesumweltbehörde statteten der Atomwaffenproduktionsanlage in Fernald (Ohio) letzte Woche einen Überraschungsbesuch ab. Die Beamten waren auf der Suche nach Beweisen über Schlampereien im Umgang mit radioaktivem Material. Fündig geworden waren sie schon bei Besuchen in anderen Atomanlagen wie etwa Rocky Flats in Colorado, wo Plutoniumtabletten auf den Fluren herumkullerten und die Bilanzen über radioaktive Ab- und Unfälle kräftig frisiert wurden. Der Firma Westinghouse, die Fernald im Auftrag der US-Energiebehörde betreibt und der Behörde selbst werden nun auch Verstöße gegen die Umwelt und Arbeitsschutzgesetze vorgeworfen.
Spekulationen, daß es in der Fernald-Anlage mit den Schlampereien noch viel schlimmer steht als bisher angenommen, gab Ohio-Westinghouse Chef Bruce Boswell am Wochenende vor den FBI-Untersuchungen neue Nahrung, als er die Einstellung der Produktion bekannt gab. Zweischneidig begründete er den Schritt gegenüber der Presse: „Wir haben nicht genug Ressourcen, um beides zu tun, aufzuräumen und die Produktion aufrechtzuerhalten.“
73 Millionen Schadensersatz - aber kein Prozeß
Daß es in Fernald einiges aufzuräumen gibt, hat sogar das Energieministerium zugegeben, als es sich Anfang dieses Monats bereiterklärte, etwa 14.000 Einwohnern von Fernald 73 Millionen Dollar Schadensersatz zu zahlen. Die Fernalder hatten schon 1984 gegen die Betreiberin der Anlage geklagt. Diesen Sommer sollte nun der Prozeß beginnen. Das Energieministerium zog es jedoch vor, den Streit außergerichtlich beizulegen. „Wahrscheinlich mit gutem Grund“, meint Lisa Crawford, die treibende Kraft der Bürgerinitiative, die den Prozeß anstrengte. „Während eines Prozesses wären vielleicht noch viel mehr Schlampereien an die Öffentlichkeit gekommen.“ Dennoch sind die Kläger mit der Entscheidung zufrieden. „Für uns ist es wichtig, daß die Behörde ihre Schuld zugegeben hat“, erklärt Crawford. „Das gibt uns eine Basis, um weitere Forderungen zu stellen.“
Lange nichts geahnt
Daß es zu einem Kampf gegen die Industrieanlage in ihrer Mitte kam, das hätten sich die Fernalder bis vor ein paar Jahren nicht träumen lassen. Der Industriekomplex im ländlichen Fernald, dreißig Kilometer von der Großstadt Cincinnati entfernt, entstand gleich nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf dem Gelände der Anlage weidet Vieh, und der Name über dem Eingangstor läßt nichts Böses ahnen. „Feed Materials Production Plant“ steht dort geschrieben, „Produktionsanlage für Fütterungsmaterialien“. „Wir nahmen an, daß dort Katzen- oder Viehfutter hergestellt wird“, meinte eine Nachbarin der Industrieanlage kürzlich.
Mit der Fabrik kam der Krebs
Erst in den letzten Jahren ist den meisten Fernaldern klar geworden, daß ihre Anlage nicht Vieh, sondern Atombomben mit Futter versorgt. In Fernald steht die einzige amerikanische militärische Uranverarbeitungsanlage. In der riesigen Schmiede entsteht aus Uranerzen waffenreines Uran für atomare Sprengköpfe. „Dreißig Jahre lang haben wir nicht gewußt, daß dort mit radioaktivem Material gearbeitet wird“, erklärt auch Marvin Clawson, dessen Hof an das Gelände der Anlage grenzt. Rückblickend können sich die Bürger heute jedoch erinnern, daß mit Inbetriebnahme der Anlage Probleme nach Fernald kamen: Krebskrankheiten! „Krebs in allen Formen und in allen Familien“, erinnert sich Doris Clawson, „uns hat es besonders hart erwischt.“ „Die Ärzte haben mir gesagt, daß ich eigentlich gar nicht mehr am Leben sein dürfte - nach drei Krebsoperationen.“
Ihre Schwester hat ebenfalls Krebs und ihrer 86jährigen Mutter, Amy Butterfield, die auf der Farm großgeworden ist, mußten seit Mitte der sechziger Jahre sechs Tumoren entfernen werden. Daß die benachbarte Industrieanlage für die Krankheiten verantwortlich sein könnte, erfuhren die Fernalder erst Anfang der achtziger Jahre, als erste Nachrichten über Uranverseuchung in Zeitungen und Fernsehen erschienen. Sie gründeten eine Bürgerinitiative und entschlossen sich, gegen die damalige Betreiberin zu klagen.
337 Tonnen Uran
einfach weg
Im Lauf der fünf Jahre währenden Prozeßvorbereitungen brachten die Fernalder immer wieder neue Beweise über grobe Fahrlässigkeiten im Umgang mit radioaktivem Material ans Licht. Dokumente des Energieministeriums und der Betreiberfirma beweisen: Radioaktiver Abfall wurde in offene Gruben geschüttet. Das Gift sickerte ins Grundwasser und bei Regenstürmen liefen die Gruben über. Trockene Abfälle wurden offen gelagert und wehten mit dem Wind über die benachbarten Felder. Staubfänger in den Schloten waren zerrissen, so daß radioaktiver Staub ungehindert in die Luft blies.
Die Umweltbehörde des Staates Ohio wurde mißtrauisch, schloß sich der Bürgerinitiative an, und forderte ebenfalls Aufklärung. Der Ohio-Abgeordnete im Kongreß, Thomas Luken, leitete daraufhin im vorigen Herbst eine Kongreßanhörung ein. Unabhängige Wissenschaftler konfrontierten die Kongreßmitglieder mit horrenden Zahlen. 135 Tonnen Uran entwich seit Inbetriebnahme der Anlage durch die Schlote in die Umwelt. 74 Tonnen Uran verschwanden in den Gewässern der Umgebung und 337 Tonnen des radioaktiven Stoffes sind einfach weg.
Die Familie Zinser
Der Verdacht der Fernalder, daß sowohl das Energieministerium sowie die Werks-Firma von den Verseuchungen wußten, bestätigte sich. „Wir sind von allen belogen und betrogen worden“, resümiert Doris Clawson. Von Betrug weiß auch Charles Zinser zu erzählen. Er hat erfahren müssen, daß die Betreiberin der Anlage, das Energieministerium und sogar die Ärzteschaft im Landkreis Fernald unter einer Decke stecken. Zinser hatte 1984 ein Stück Land in Nähe der Anlage gepachtet. Er verbrachte Nachmittage und Wochenenden mit seinen zwei Söhnen bei der Gartenarbeit. Ein Jahr später erkrankte der achtjährige Samuel an Leukämie, und noch innerhalb des gleichen Jahres wurde dem zweijährigen Louis ein Bein abgenommen, die Folge eines seltenen Knochenkrebses. Die Ärzte wunderten sich und legten Zinser nahe, mögliche Ursachen für die Erkrankungen in der Umwelt zu suchen. „Erst zu dem Zeitpunkt kam ich auf die Idee, daß die Industrieanlage verantwortlich sein könnte“, sagte Zinser vor dem Kongreßkomitee aus.
Er ließ Bodenproben aus seinem Garten und Gewebeproben der Kinder auf radioaktive Stoffe untersuchen. Er mußte jedoch feststellen, daß er es immer wieder mit Wissenschaftlern zu tun hatte, die Verbindungen zum Energieministerium hatten. „Sogar das Krankenhaus meiner Kinder in Cincinnati hatte Experten als Zeugen für das Energieministerium gestellt“, sagte Zinser aus.
Geld für „Streß“, nicht Krebs
Erst Untersuchungen an der Waterloo-Universität in Kanada führten zu einschlägigen Ergebnissen: Der Boden im Bereich der Anlage enthält weit mehr Uran, als natürlich auftritt. In den Knochen des zweijährigen Louis hatte sich hundertmal so viel Uran abgelagert wie landesweit durchschnittlich bei Erwachsenen üblich. Eine Untersuchung der Isotope ergab weiterhin, daß es sich bei einem Teil des in den Proben nachgewiesenen Urans um das in der Anlage produzierte Uran -235 handelt, das in der Natur nicht auftritt. Trotz dieses Beweismaterials war das Energieministerium nicht bereit, Kompensationen für die Erkrankungen der Kläger von Fernald zu zahlen. In der jetzt geschlossenen Vereinbarung heißt es, daß die 73 Millionen Dollar Schadensersatz lediglich Streß und Wertverlust von Eigentum kompensieren sollen. Außerdem soll das Geld die Kosten für eine unabhängige epidemiologische Langzeitstudie in Fernald decken.
Lisa Crawford ist jedoch überzeugt: „Eine wirklich unabhängige Studie wird eindeutig beweisen, daß es im Raum der Anlage ungewöhnlich viel Krebskranke gibt, und insbesondere Krebsarten wie Leukämie und Gehirntumore bei Kindern, die auf Strahlenschäden schließen lassen.“ Und mit diesem Beweismaterial, meint sie, werden die Fernalder wieder vor Gericht ziehen.
Ebenso nicht eingeschlossen in die 73-Millionen -Vereinbarung sind Entschädigungen für erkrankte Angestellte der Anlage. Doch der Kongreß will, daß auch den insgesamt 80.000 Angestellten, die heute in amerikanischen Atomwaffenfabriken arbeiten, künftig geholfen wird. Ein neu eingebrachtes Gesetz fordert die Übergabe aller vom Energieministerium angefertigten medizinischen Untersuchungen an die Öffentlichkeit. Erkrankte jetzige oder frühere Angestellte sollen damit die Möglichkeit bekommen, Schadensersatz einzuklagen. Insgesamt haben mehr als 600.000 Arbeiter seit Beginn des Atomzeitalters US-amerikanische AKWs und Atomfabriken durchlaufen.
Bitterkeit
Für die Clawsons, die Crawfords und die Zinsers mag das Schuldbekenntnis des Energieministeriums zwar ein Sieg sein, doch die Bitterkeit bleibt. „Wir haben vier Jahre lang kontaminiertes Wasser getrunken“, meint zum Beispiel Lisa Crawford. „Der Schaden ist nicht mehr gut zu machen.“ Der Crawford-Brunnen ist nach Dokumenten des Energieministeriums radioaktiv verseucht. Man hatte es jedoch nicht für nötig befunden, die Familie zu warnen. Und für die alte Frau Butterfield ist es ein schrecklicher Gedanke, daß nach ihr niemand mehr auf dem Familienhof leben wird. Die Verwandten haben kein Interesse an dem Erbe. Ihr Großvater hatte den Hof 1815 als Belohnung für seine Verdienste im Revolutionskrieg bekommen. „Seither hat hier immer jemand aus der Familie gelebt“, weiß die alte Frau. „Aber Fernald hat dem ein Ende gesetzt. Ich werde die letzte sein.“
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