„Demokratiebewegung vor Wende“

Chinesischer Studentenführer Li Lu in Berlin / Heirat auf dem Tienanmen-Platz: „Ich wollte vor meinem Tod alles erfahren, was zum Leben gehört“ / Li Lu wendet sich gegen ausländische Investitionen in China  ■  Aus Berlin Beate Seel

Vielen deutschen Fernsehzuschauern dürfte Li Lu bekannt sein: Er ist jener chinesische Studentenführer, der zwei Tage nach Verhängung des Ausnahmezustandes auf dem Pekinger Tiananmen-Platz seine Hochzeit feierte. „Mir war klar, daß die Organisatoren der Demokratie-Bewegung auf jeden Fall zur Rechenschaft gezogen werden würden und unser letzter Tag kurz bevorstand“, beschrieb Li am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Berlin seine Gefühle anläßlich dieses ungewöhnlichen Ereignisses, das von vielen als eine Art symbolischer Aktion mißverstanden wurde. „Ich habe mir damals gesagt, daß es noch einige Dinge gibt, die ich vorher noch erledigen wollte. Ich wollte vor meinem Tod alles erfahren, was zum Leben gehört. Dazu gehörte auch, meine Freundin zu heiraten. Meine Parole war: Wir müssen kämpfen, wir müssen auch heiraten.“

Seinem Tod konnte Li Lu entkommen. Der Student der Wirtschaftswissenschaften zählt zu jener kleinen Gruppe von 21 Gesuchten, der die Flucht ins Ausland gelang. Er, der eigentlich in Nanking studierte und dort die Studentenbewegung mitorganisierte, kam Ende April nach Peking. Vor seinem Untertauchen war er der stellvertretende Leiter einer Gruppe von Studenten, die für die Aktivitäten auf dem Tienanmen-Platz zuständig waren. Er und seine Freunde waren mit die letzten, die den Platz am 4.Juni, dem Tag des Massakers der chinesischen Armee, verließen.

„Die Demokratiebewegung steht vor einem Wendepunkt“, erläuterte Li Lu. Fortsetzung Seite 2

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„Auf der einen Seite herrscht Terror, der die demokratischen Rechte des Volkes auf ein Minimum reduziert. Auf der anderen Seite hat der Haß des Volkes gegen die Regierung einen Höhepunkt erreicht.“ Das Massaker, mit dem keiner der Beteiligten gerechnet hat, veränderte Li zufolge die Haltung der Aktivisten gegenüber der chinesischen Führung.

Zunächst habe die Demokratie-Bewegung lediglich grundlegende Rechte eingeklagt, wie das Recht des Volkes, selbst über die Regie

rung zu entscheiden und diese zu kritisieren. „Nach dem Massaker haben wir erkannt, daß das nicht ausreichend ist. Solange die Diktatur besteht, sind die demokratischen Rechte nicht gewährleistet. Deshalb treten wir seit dem Massaker für den Sturz des diktatorischen Systems ein. Wir haben es mit Blut bezahlt, zu dieser Erkenntnis zu gelangen“, sagte Li.

Das Ende der Diktatur bedeutet für ihn und seine Freunde das Ende des Einparteiensystems. Dabei ist eine Veränderung in China nach Li nur durch ein Zusammenspiel der Bewegung im Lande selbst mit dem Ausland möglich. Die Chinesen im Ausland sind gegenwärtig erstmals da

bei, unter Hintanstellung von Differenzen eine „Front für ein Demokratisches China“ aufzubauen. In diesem Zusammenhang sprach sich Li auch gegen ausländische Investitionen in China aus: „Manche sagen, die Bevölkerung werde (durch Sanktionen, d.Red.) in Mitleidenschaft gezogen. Wenn man der Bevölkerung helfen will, muß man alles daransetzen, um das Regime zu stürzen. Nur dann ist ein ruhiges Leben möglich.“

Der Student Li wurde im Zuge der blutigen Ereignisse nicht nur ins Exil getrieben und von Frau, Familie und Freunden getrennt, um deren Schicksal er sich jetzt sorgt. Er ist auch unvermittelt auch zu einer Art

Polit-Funktionär geworden, was, wie er sagt, nie seine Intention war. Daher möchte er nach einer Pause sein Studium im Ausland fortsetzen. Doch sein ganzes Leben, so erklärte Li, wird mit der Demokratie-Bewegung in China eng verbunden bleiben.

„Als ich auf dem Tienanmen stand, hatte ich das Gefühl, daß wir mit einem großen Pinsel die Details der Geschichte schreiben“, faßt er seine Erfahrungen zusammen, „wir wußten nicht, wie wir diese Geschichte schreiben, aber wir haben sie mit großer Ernsthaftigkeit und starkem Glauben geschrieben. Ich hoffe, daß dieses Stückchen Geschichte in einigen Jahren neu geschrieben wird.“