: Zehn Monate für zehn Steine
■ Erster Prozeß wegen Beteiligung am diesjährigen 1.Mai-Krawall endete für 23jährigen Franzosen mit zehn Monaten auf Bewährung / Umfassendes Geständnis abgelegt
Mit zehn Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung kam gestern ein 23jähriger Franzose davon, der bei den diesjährigen 1.Mai-Krawallen in Kreuzberg zehn Steine auf eine Polizeiwanne geworfen hatte. Das Gericht, das den Angeklagten wegen schweren Landfriedensbruchs und schweren Widerstands verurteilte, war mit seiner Strafe sogar noch zwei Monate unter dem Antrag von Verteidiger Protze-Zwick geblieben. Der politische Staatsanwalt Rolfsmeyer hatte gar zwei Jahre und drei Monate gefordert. Wie der Vorsitzende Richter Becker in der Urteilsbegründung ausführte, hatte das „freimütige Geständnis“ des nicht vorbestraften Angeklagten eine entscheidene Rolle bei der Strafzumessung gespielt. So hatte der Franzose Alain E. gleich nach seiner Festnahme viel mehr zugegeben, als ihm jemals hätte vorgeworfen werden können.
Alain E. lebt seit zwei Jahren in Berlin, und hatte zuletzt als Kohlenträger gearbeitet. Er war am Abend des 1.Mai in der Görlitzer Straße festgenommen worden und hatte bis gestern in U-Haft gesessen. Vor Gericht gab er gestern erneut zu, gegen 19.30Uhr vom Park des Görlizer Bahnhofs aus „maximal“ zehn Steine auf einen vor der Mauer parkenden Polizeilastwagen geworfen zu haben. Auf die Frage des Richter, warum er das getan habe, antwortete er: „Ich habe Leute gesehen, die Steine warfen, das habe ich dann auch getan, ohne zu wissen warum“. Und auf die Frage des Gerichts, ob er getroffen habe: „Vielleicht ja, vielleicht nein. Ich konnte es nicht genau sehen.“ Alain E. gab auch zu, eine Weile einen Stock - „ein Stück Ast von einem Baum“
-bei sich getragen zu haben, mit dem er sich im Falle eines Angriffs gegen die Polizei habe verteidigen wollen. Den Stock hatte er vor seiner Festnahme weggeworfen. Als er dann abgeführt wurde, so Alain E., sei er von einem Polizeibeamten durch einen Stoß mit dem Ellenbogen verletzt worden.
Der einzige Belastungszeuge, ein 29jähriger Polizeibeamter erklärte, daß ihm der Angeklagte an jenem Abend aufgefallen sei, weil er im Görlitzer Park in der ersten Reihe der Steinewerfer gestanden habe und im Gegensatz zur Mehrzahl dieser unvermummt gewesen sei: „Ich dachte, der ist ganz schön dreist, weil der höchstens zehn Meter weg war“, sagte der Beamte. Markant habe er auch gefunden, daß der Angeklagte in der linken Hand einen Holzknüppel gehalten und mit der Rechten einen Stein „provozierend“ ein paarmal in die Höhe geworfen habe, bevor er ihn auf das Polizeifahrzeug abgefeuert habe.
In der Urteilsbegründung schlug der Vorsitzende Richter Becker ganz andere Töne an, als sonst bei vergleichbaren Prozessen üblich. So bezeichnete er den Strafantrag von Staatsanwalt Rolfsmeyer als „exorbitant“. Der Angeklagte sei keineswegs, wie von Rolfsmeyer dargestellt, ein Aktivist, sondern vielmehr „zufällig“ in das Geschehen hineingeraten und habe sich diesem dann angeschlossen, weil er durch vorherigen Alkoholkonsums enthemmt gewesen sei.
Noch deutlicher wurde der Richter, als er bemerkte, daß die Staatsanwaltschaft mit zweierlei Maß messe. Als Bespiel führte Becker einen Prozeß an, in dem er unlängst den Vorsitz geführte hatte und in dem die Angeklagten Polizisten waren (Tatort war das Jugendzentrum Drugstore in der Potsdamer Straße, d. Red): Obwohl das „nicht“ unerhebliche Vergehen der Körperverletzung im Amt angeklagt gewesen sei, so Richter Becker, habe die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens gegen eine Geldbuße beantragt.
plu
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