: Auf dem Tiananmen eine neue Göttin der Demokratie!
Einer der Pekinger Studentenführer über die Bewegung, das Massaker und die Chancen für Demokratie in China ■ D O K U M E N T A T I O N
Vor dem Massaker auf dem Tiananmen war der 23jährige Ökonomiestudent der Nanjing Universität Li Lu stellvertretender Leiter des Hungerstreikkomitees und einer der Hauptorganisatoren der Demokratiebewegung. Mit zehntausend Teilnehmern der Demokratiebewegung feierte er am 21.Mai seine spektakuläre Hochzeit auf dem Tiananmen. Die Heiratsurkunde für Li Lu und seine Frau, die noch in China untergetaucht ist, wurde von der Gesamtleitung des Tiananmen ausgestellt. Li ist neben Wu Erkaixi einer der wenigen Studentenführer von der Fahndungsliste der 21, der sich bislang ins Ausland flüchten konnten. Am Dienstag abend war er zu einer Informationsveranstaltung im Audimax der Berliner TU zu Gast. O-Töne von der Veranstaltung:
Ich freue mich, daß ich lebend aus China herausgekommen bin und heute Abend Gelegenheit habe, mich mit Ihnen zu treffen. Im Verlauf der Geschichte werden die Errungenschaften und Leistungen vieler Menschen nach außen hin häufig auf die Namen weniger zentriert. Also nehme ich die Blumen und den Beifall nicht als persönliches Geschenk entgegen, sondern für alle, die an der Demokratiebewegung teilgenommen haben. Ich bin es nicht gewohnt, von einer Tribüne zu reden und hatte eine Gesprächsrunde erwartet, ich möchte also keine Propagandaveranstaltung abhalten, sondern ein gemeinsames Gespräch mit ihnen führen und warte auf ihre Fragen.
Spätestens 1992 werden die Auslands- und Inlandsverschuldung auf gleichem Niveau angekommen sein und die Schuldenlast etwa 50 Prozent des Bruttosozialprodukts ausmachen. Dann wird China vor unlösbaren Problemen stehen. Der Anschluß Hongkongs wird zudem für Zündstoff sorgen. Demokratische Perspektiven
Während Deng an den vier Prinzipien festhält, will Li Peng auf das Modell der Sowjetrepublik in den fünfziger Jahren zurück. Zwischen Deng und Li Peng gibt es einen kaum überwindbaren Widerspruch, die Regierung unter dem neuen Parteichef gibt uns schon ein Signal in dieser Richtung. Wenn Li Peng abgesetzt würde, könnte sich Demokratie in China durchsetzen, der Weg ist unklar, aber mit seiner Absetzung wird auch die Rehabilitierung von jetzt verbotenen Organisationen einsetzen. Die Diskussion über ein neues Grundgesetz, über ein neues Pressegesetz, die Zulassung von Parteien wird kommen.
Es kann sein, daß wir den Weg des sowjetischen Pluralismaus einschlagen werden, also mit Reformen des Parlaments beginnen. Das chinesische Parlament hat etwa 3.000 Abgeordnete, und mit dieser Unmenge ist der Apparat lahmgelegt. Wir könnnen uns vorstellen, diesen Apparat umzubauen, möglicherweise kehren andere Kräfte auf die politische Bühne Chinas zurück. Was den Aufbau von einer Oppositionspartei betrifft, so sehe ich zukünftig zwei Möglichkeiten. Einmal nach dem Vorbild der KP, dabei besteht die Gefahr, daß die Partei zunächst sehr stark wird, dann aber innenpolitisch gestürzt wird. Das andere Extrem totaler Organisationsfreiheit birgt in China die Gefahr, daß Tausende von Organisationen aus dem Boden gestampft würden. Das Ziel aller dieser Parteien mag dann zwar die Verwirklichung der Demokratie sein, aber die Widersprüche zwischen den Organisationen bieten auch Angriffsflächen, wie uns etwa das Beispiel Südkorea gezeigt hat. Wir haben den Vorschlag für die Gründung einer Front für ein Demokratisches China erarbeitet. Der u.a. von Wu Erkaixi unterzeichnete Text liegt vor. Alle, die die 89er Bewegung unterstüzen und gegen das Massaker protestieren, könnten sich in dieser Organisation wiederfinden. In dieser Front kann es sehr viele verschiedene Programme geben, die sich jedoch alle auf ein gemeinsames Grundprogramm beziehen und in einer Zentrale mit hoher Arbeitseffizienz zusammenlaufen. Eine solche Organisation ist das beste Mittel, um die alte Bastille - ich meine das Gefängnis, das jetzt in China errichtet wird - zu stürmen. Ziele der Bewegung
Die Bewegung entwickelte sich vor dem Hintergrund des gesamten ökonomischen und politischen Klimas. Die Wirtschaftsreform befand sich in einer Krise, und politische Reformen wurden immer willkürlicher. Besonders schmerzlich waren in den Jahren 88/89 die durch Inflation bedingten Preisreformen. Hinzu kamen die durch die Öffnung bedingten Einflüsse im Bereich der geistigen Auseinandersetzungen.
An die Studentenbewegung wollte niemand mehr recht glauben, man unterstellte, daß weite Teile sich nur noch für Glücksspiele, die Vorbereitungen für ein Studium in den USA interessierten oder den Rückzug in die Zweisamkeit der politischen Auseinandersetzung vorziehen. Daß unter diesen Voraussetzungen eine großartige Bewegung entstand, die ja von ganz jungen Studenten getragen wurde, versetzte alle in Erstaunen.
Da ich aber sehr lange mit Studenten zusammengelebt habe und selbst einer war (zunächst der Physik und dann der Ökonomie im vierten Studienjahr), verstehe ich, daß unter ihnen Keime für ein unabhängiges Denken, von Intellektuellen als einer unabhängigen Schicht entstehen konnten. Der Entwicklung dieses studentischen Bewußtseins lag hauptsächlich das Bedürfnis nach Wahrheit zugrunde. Man wollte selbst bestimmen, selbst entscheiden und keinen Einfluß von Propaganda mehr dulden. Ungehorsam und
Unabhängigkeit
Ich war von Anfang an dabei und weiß, daß es keine schwarze Hand von außen gab, die Bewegung war nicht so, wie sie sein sollte, sondern so wie sie sein wollte. Als sich beim Hungerstreik etwa ältere Intellektuelle statt unser opfern wollten und uns als „liebe Kinder“ ansprachen, weigerten wir uns. Was die Studenten brauchen, ist eine gleichrangige Behandlung, hätten sie gesagt „liebe Kommilitonen“, dann hätten wir sie vielleicht akzeptiert. Selbst im Gespräch mit Ministerpräsident Li Peng insistierten wir auf gleichrangige Behandlung. Wenn wir diese Bewegung in zwei Worten zusammenfassen wollen, dann sind es Unabhängigkeit und Ungehorsam.
Es stimmt, daß Studenten Petitionen auf Knien eingereicht hatten, und tatsächlich glaubte bis zum 4.Juni der überwiegende Teil der Bewegung daran, die Politik der Regierung verbessern zu können. Erst nach dem Massaker realisierten wir, daß die ganzen zehn Jahre Deng-Politik ein Betrug waren. Bis zum Schluß haben wir uns mit unserem Leben eingesetzt, um das System zu verbessern. Auch wir können nicht fassen, daß es zu diesem Ende kam. Nach dem Massaker sind wir zu dem Schluß gekommen, daß die Wurzel dafür im diktatorischen System liegt. Wir haben keine Ruhe, solange dieses System existiert. Einige von uns sagen „Nieder mit der KP“, andere raten uns wiederum davon ab, diesen Slogan aufzustellen, wir sind uns darin noch nicht einig. Wer aber das Massaker miterlebt hat, versteht was der Slogan „Nieder mit der Diktatur“ bedeutet. Solange diese Diktatur herrscht, könnten sich die Massaker jederzeit wiederholen. Mehr Demokratie
Ich denke, die Globalentwicklung geht in Richtung auf mehr Demokratie. Wenn wir bedenken, was im Ostblock gerade stattfindet, können wir diese Tatsache nicht mehr von der Hand weisen, obwohl die Reformbewegungen nicht überall mit gleicher Radikalität durchgesetzt werden. Das Massaker auf dem Tiananmen war ein Verrat. Die Forderungen des chinesischen Volkes stimmen mit dieser Globalentwicklung überein, und die Bewegung wird sich dieser Entwicklung weiter anpassen.
Die Chinesen auf der Welt sind nach dem Massaker im Grunde in zwei Teile gespalten, in die ganz kleine Zahl derer, die dieses Massaker befürworten, die damit ihre Macht bewahrt und erhalten haben, und in die ganz große Zahl derer, die dagegen sind. Jeder, der zurückkehren will, mag selbst entscheiden, ob er in ein China der Versklavung zurückkehren will. Wir werden dann zurückkehren, wenn man auf dem Tiananmen wieder eine Göttin der Demokratie errichten kann.
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