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„Wenn's zu eng wird, schweig‘ ich“

■ Großer Empfang zum 106. Geburtstag von Else B. / „Haus der 100jährigen“

Einmal will ich nicht 106 sein! Wenn du 106 wirst, bist du ein obskures Objekt ohne eigene Begierde.

Du sitzt in einem Rollstuhl, aber die Schwester hat dich hübsch gemacht und deine kleinen Haare zu einem Zopf geflochten. Hübsch gemacht zu werden ist eine Bevorzugung und scheint sich nur noch selten zu lohnen.

Du hast mehr gesehen als alle, die auf einmal um dich rumstehen und dir Glückwünsche ins Ohr brüllen, weil du nicht mehr richtig hören kannst. Einigen ist es peinlich, so schreien zu müssen, da klingt die Stimme so hohl. Und dann wollen sie dir gratulieren, aber du kannst die Hand nicht mehr heben, also muß sie ergriffen werden. Für einen kurzen Moment zuckt man plötzlich davor zurück, ob du vielleicht ernsthaft die Gratulation verweigerst.

Hinter deinem Rollstuhl hängt ein Gratulationskranz, rund und grün um die goldene Zahl 106 ge

schlungen aus dem Papierwarenladen. Daneben steht eine Pyramide aus Marzipantorten mit Fruchtfüllung, die erkennst du nicht, weil du nur noch in Umrissen sehen kannst. Dafür kennst du auch nicht alle die Gratulanten, die es sich nicht haben nehmen lassen, dir persönlich zu gratulieren. Du vertraust aber darauf, daß die Oberen der Heimleitung den Kuchen gerecht verteilen. Zum Beispiel dem Ortsamtsleiter, der dir schon, obwohl Dr. Dieter Klink noch nicht da ist, das Geldgeschenk vom Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Wert von 200 DM und seine Urkunde überreicht, ach ja, und das Schreiben vom Bürgermeister Wedemeier auch noch.

Ah, da kommt der Herr von der Sparkasse, der hat dich im Winter manchmal nach Hause gefahren. Ein guter Mensch. Mit Nachdruck ergreift er deine erstarrte Hand und ist so rührend ritterlich, als wärst du noch begehrenswert. Da müssen deine Altersheimgenossinnen mit den kleinen Geschenken schon etwas warten mit ihren wohlverpackten Präsenten. Es sind nur Frauen, auch sie haben sich hübsch gemacht, mit dem kleinen Nachmittagsgeblümten und der schweren Holzperlen

kette, das ging noch ohne Hilfe. Obwohl das hier ein Heim mit einem Durchschnittsalter von 88 Jahren ist: „Haus der Hundertjährigen“ heißt es im Scherzmund.

Und weil ab 100 offiziell gefeiert wird, gibt es manchmal mehr als drei Empfänge pro Jahr im Altenheim. Und weil du 106 bist, bist du schon sechs mal offiziell gefeiert worden. Und immer noch läßt es dein Gesundheitszustand zu. Und um dich herum raunt es, wie eine Bewunderung, wie geistig rege du doch und noch immer seist.

Was hast du behalten von deinem Leben? Die Frage der Reporterin macht dich hilflos. Da war eben Sonnenschein und Regen, und da ist die Zimmernachbarin, die manchmal auf die Nerven geht, und wo du dann schweigst, damit sie dich in Ruhe läßt, und seit zwei Jahren bist du hier im Heim, ja, aber wie lange in Bremen? Ah, da kommt dein Sohn, der weiß das alles, obwohl er so selten hier ist. Oma, nennt er dich, weil du keinen Namen mehr hast, Oma, er schreit es geradezu, so wohl fühlst du dich ja hier, Oma! Und '42 bist du in Hamburg ausgebombt worden, Oma, und ab '66 warst du in der Vahr ansässig, Oma!! Ist das richtig,

Oma???? Ja, das ist richtig.

Eine Heimleiterin drückt dir das Glas Sekt in die Hand, preßt sich eng an dein altersfleckiges Gesicht, witzigerweise genau dann, als der Fotograf abdrückt. Dann hilft sie dir, das Glas Sekt zum Munde zu führen, sooo, noch ein Schlückchen, das konntest du eben noch selbst. Weil Herr Klink immer noch nicht kommt, geht der Ortsamtsleiter schon mal. Sekt regt den Kreislauf an, wird schelmisch in die stehende Runde gegeben, und weil alle stehen, überragen dich alle. Jetzt singen Pfleger und Schwestern das Lied „Lobet den Herrn“.

Und da kommt endlich die Tochter, Tochter klingt komisch, weil sie auch schon an die 80 ist. Ja, die Mutter, das bist du, hat solide gelebt. Bis 104 hat sie dich gepflegt! Dahinter kommen deine vier Urenkel mit den Enkeleltern und singen auch, und der jüngste wird dir halbjährig auf den Schoß gepackt. Im Hintergrund sprechen zwei auswärtige Besucher über Nachlaßprozesse und warten auf das kleine Buffet. Das Fernsehen kommt.

Da sagt Else B. den wunderbaren Satz: „Ich habe damit gar nichts zu tun!“

Claudia Kohlhase

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