: Vorlauf: S O N N T A G
■ Unter deutschen Dächern. Das Dorf der Würde
ARD, 21.45 Uhr
„Parral heißt der Ort, wo ich zur Welt kam im Winter.“ Pablo Neruda liebte sein Land, sein Chile. Als die Militärjunta 1973 die Regierung Allendes stürzte, war es nicht länger das Chile aus Nerudas Versen. Und sein Geburtsort Parral hatte sich schon viel früher zu einem Hort inhumanen Geistes entwickelt. Mit den Deutschen kam der Schrecken. Neben einer Schotterpiste Richtung Anden zerschneiden Stacheldraht und Graben die Landschaft. Ein Schild an der Zufahrt zum Grundstück kommt uns so merkwüdig vertraut vor: Freitstaat Bayern steht darauf. Mitten in Chile. Wir sind in der „Colonia Dignidad“ - Gera Gemballa hat uns mitgenommen in das „Dorf der Würde“, wo „aufrechte“ Deutsche leben und prügeln, beten und foltern, Menschlichkeit heucheln und mit den Militärs Hände schütteln. Bisher hat es noch kein Journalist geschafft, diesen Ort zu betreten, über den Horrormeldungen nach außen dringen, von dem aber kaum jemand weiß, wie es dort wirklich zugeht.
Gero Gemballa war Gast im Lager. Irgendwie muß Sektenführer Paul Schäfer ihn für einen ordentlichen Deutschen gehalten haben, wie schon die chilenischen Geheimdienstoffiziere, die stolz von ihren Verbindungen zur Colonia Dignidad berichten. Das Leben in der Kolonie sehen wir mit den Augen des Lager -Kameramanns. Gemballas eigenes Team mußte das Material abgeben, so bleibt nur ein Werbespot von Fleiß und Disziplin: ein bayerisches Phantasieland, Schulen und Krankenstationen. Und über allem schwebt Franz Josef Strauß. Er wird verehrt wie ein Götze.
Ihr Gott ist tot, aber das Leben im Camp geht auch ohne Strauß weiter. Das Mädchenorchester spielt auf vor einer properen Fassade; nicht zufällig vermitteln die Bilder dunkle Nähe zu den Lagerkapellen in deutschen KZs. Gemballas Film ist der permanente Ausnahmezustand. Schon das verwendete Filmmaterial - alle erdenklichen Formate von Super 8 über U-Matic bis 16 mm - zeigt, daß dem Team alle vorstellbaren Steine in den Weg gelegt wurden. Trotzdem gelingt dem Autor der Nachweis, worin das eigentliche Tun dieser Sekte liegt. Hier fanden die Putschisten Unterschlupf, bevor sie zum Sturz von Allende losbrachen, hier wurden Regimegegner gefoltert, hier traf sich deutsche Prominenz mit chilenischen Politikern. Doch je erbitterter die Dokumentation Fakt für Fakt aufzählt, desto aussichtsloser erscheint die Argumentation. Ändern wird sich nichts, außer einigen Prozessen, die deutsche Anwälte gegen Radio Bremen anstrengen werden. Unter deutschen Dächern hat die Kolonie im fernen Chile immer noch viele Freunde.
Christof Boy
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