: Alte Briefe und offene Rechnungen
Abgestandene Vergangenheitsoffenbarung der DDR ■ G A S T K O M M E N T A R E
Fünfundvierzig Jahre nach Kriegsende bringen unbewältigte Germanen Wiedervereinigung und Oder-Neiße-Grenze ins falsche Spiel. Begründet wird das unfriedliche Anschlußprogramm mit dem deutschen Selbstbestimmungsrecht. Verschwiegen wird die fatale Selbstbestimmung von 1933. Wer die Grenzen von 1937 fordert, will den 8. Mai 1945 überspringen: Augen zu und rückwärts zum Endsieg.
Leidet die BRD an Einsichtsverstopfung infolge Kopfträgheit, findet die DDR nicht schneller zur nüchternen Wahrheit. In Bonn suchen sie Adenauerpapiere von 1951, und die DDR spürt einen Brief von Wilhelm Pieck vom Jahre 1940 auf, als der brave Wilhelm in Moskau vom Tode bedrohte Genossen zu retten versuchte.
Der Brief kommt reichlich spät. Zweck ist das Aufpolieren der dunklen Parteigeschichte. Die Tragödie der KP-Exilanten ist bekannt: Im deutschen wie sowjetischen Reich vom Henker bedroht. Und was ist mit Ulbricht? fragt die fromme 'FAZ‘, wissend, daß der böse Bart nicht wie Pieck Genossen zu retten versuchte. Im Gegenteil. Das aber geht die bürgerlichen Ultras einen feuchten Kehricht an. Wegen dicker Komplizenschaft im Dritten Reich.
Anders unter Linken. Die Offenlegung der KP-Geschichte tut not. Doch in Stalins Moskau waren die KPD-Leute selbst bedroht. Fragt sich, wann das nach 1945 in der DDR begangene Unrecht zugegeben wird. Piecks Brief in Ehren, doch mit welchen Briefen suchte er Verfolgte zu retten, als er später selbst der DDR vorstand? Und nach ihm die anderen Parteiführer? Um drei Beispiele zu nennen: Kurz vor dem Mauerbau wurde unser Freund und Genosse Heinz Brandt aus West-Berlin entführt. Internationale Solidarität holte ihn Jahre später aus Bautzen raus. Wer entführte Brandt? Wer war verantwortlich? (Mischa Wolf - Stoff fürs nächste Buch?)
Aus West-Berlin entführt wurde damals u.a. der aus der DDR entflohene VP-Generalleutnant Robert Bialek, wobei der britische Spion George Blake seine Hand im Spiele hatte. Bialek zählt zur Gruppe der bis heute Verschwundenen. Wer entführte den Mann? Was wurde aus ihm?
Zur völligen Aufklärung steht endlich der Fall des Schriftstellers Erich Loest, der 1957 in Leipzig verhaftet wurde und nach einem geheimen Scheinprozeß 7 Jahre nach Bautzen mußte. Erich Loest, heute in Bad Godesberg lebend, mahnt seit Jahren seine Rehabilitation vergeblich an.
Daß Wilhelm Pieck vor 49 Jahren einen heimlichen Brief mit der Bitte um Hilfe für verhaftete Genossen schrieb, mag parteigeschichtlich interessant sein. Interessanter wäre die Offenlegung jüngerer Papiere der DDR-Kriminalgeschichte. Darauf sollten wir möglichst keine 49 Jahre warten müssen. Das walte Perestroika.
Gerhard Zwerenz
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