: Eine triumphale Niederlage
Das ungewöhnlichste Fußballspiel einer Dynamo-Mannschaft, das es in der Sowjetunion je gab ■ Aus Jaroslawl Bernd Müllender
Im weiten Rund des riesigen Moskauer Lenin-Stadions mit seinen 103.000 Sitzplätzen haben auch vierzig Besucher Platz genommen, die mit ganz besonderem Interesse das Pokalspiel zwischen Spartak Moskau, dem sowjetischen Tabellenführer mit seinen Stars Passulko, Rodionow und Kusnetzow, und deren Gegner Cinik Jaroslawl verfolgen. Die Spieler, Betreuer und Fans von Dynamo spionieren die Spielstärke ihres nächsten Gegners aus, des Zweitligisten aus Jaroslawl. Nach 90 Minuten verlassen die Beobachter das Olympia-Stadion durchaus beeindruckt: Cinik hatte einiges geboten, sogar geführt, und nur unglücklich mit 1:2 gegen die übermächtigen Ball-Spartakisten verloren.
Cinik gegen Dynamo zwei Tage später. Das klingt wie ein ganz alltägliches Fußball-Zweitligaspiel in der sowjetischen Liga. In Wahrheit wird es für beide Gegner ein ungewöhnliches Erlebnis. Die Presse in Jaroslawl, einer Halbmillionenstadt ein paar Autostunden nordöstlich von Moskau, wird tags darauf schreiben: „Cinik hat schon gegen Mannschaften aus vielen Erdteilen gespielt, aber gegen ein solches Team noch nie.“ Dynamo kommt aus Kassel, und für die Alternativkicker war es schon vorher das Spiel schlechthin in der turbulenten Vereinsgeschichte des „Freizeitsportclubs Dynamo Windrad“.
Verfolgter Dynamo
In der Bundesrepublik darf ein Dynamo in den Ligen des DFB nicht mittun. Dies befand vor sechs Jahren der Hessische Fußballverband, weil der Name „zu sehr an die Gepflogenheiten der DDR bzw. des Ostblocks erinnert“, und somit statutenwidrig bös politisch sei. Die Mannschaft hatte sich mit wechselndem Erfolg durch die Instanzen geklagt, zuletzt aber scheiterte sie 1988 endgültig am Bundesverfassungsgericht. Da blieb den Alternativkickern nur noch eines: Gegner da suchen, wo es den Gepflogenheiten entspricht. Eine Aufnahme in die DDR-Liga (im kleinen sportlichen Grenzverkehr) scheiterte, trotz offenkundigen Wohlwollens der ostdeutschen Behörden, am Völkerrecht Kasseler sind halt keine DDR-Bürger. Doch da hatte Kassel gerade Jaroslawl als neue Partnerstadt gefunden. Also, nach vielen Verhandlungen, Gesprächen, Kontakten, nach Hilfe der Deutsch-sowjetischen Gesellschaft und einer Verhandlungsreise dreier Dynamos vorab: Auf zur Gastspielreise in die UdSSR.
Und plötzlich war die Mannschaft, die sonst identitätsgestört nur unter Tarnnamen in der Kasseler Kreisliga und gegen auswärtige El-fen aus bunten und wilden Ligen kickt, eine Attraktion aus der fer-nen Fremde: Überall in Jaroslawl kündeten Plakate vom großen Spiel, die Zeitung schrieb gar von einem „Freundschafts-Länderspiel“. Kon -sequenter Kommentar einer Dynamo-Begleiterin: „Zuhause werden sie verboten, und hier gehen sie als Nationalspieler durch.“
Natürlich war die Begegnung David Dynamo gegen den professionellen Goliath ein ungleicher Kampf. Doch schon nach knapp fünf Spielminuten kommen die dynamischen Gäste erstmals über die Mittellinie und haben wenig später sensationell die erste echte Torchance des Spiels. Dann aber sehen die Stürmer den gegnerischen Torwart nur noch schemenhaft und werden zwangsläufig zu zusätzlichen Vorstoppern. Mal hilft die Latte, mal der Pfosten, und was durchkommt, und das ist einiges, erhechtet sich der großartige Schlußmann Norbert, der später, wahrscheinlich als Torwart erstmalig in der Fußballgeschichte, vor Erschöpfung mit Wadenkrämpfen liegen bleibt. Volle 30 Minuten und acht Sekunden halten die neointernationalen Freizeitkicker das 0:0 und wehren sich wie ein Windrädchen gegen den Sturm.
Anfang der zweiten Halbzeit, nach dem 0:4, nehmen Freude und Freundschaft Überhand, die Sowjet-Profis wechseln einige Stars aus, und schalten zwei Gänge zurück. Gelegentlich wird noch die fehlende internationale Erfahrung deutlich, als die Dynamos den einheimischen Unparteiischen mit dem Zuruf „Schiri“ auf erschöpfungsbedingte Auswechselwünsche aufmerksam machen wollen, der sich jedoch einfach nicht angesprochen fühlt. Doch am Ende nur 3:5 zu verlieren (Wir beglückwünschen unseren Korrespondenten zu seinen beiden Treffern, d.Red.), wobei man vor lauter Freundschaft auch noch ein paar zusätzliche Chancen vergeben hatte, das war fast so schön, wie es ein Triumph vor dem Verfassungsgericht gewesen wäre.
Viele Hundert der fast 5.000 Zuschauer drängelten sich hernach händeschüttelnd, schulterklopfend, autogrammebittend um diese komischen Fußballer. Jugendliche drückten sich scharenweise am Mannschaftsbus die Nasen platt, und von Völkerverständigung und friedlichem Miteinander war nicht mehr die Rede, all das wurde einfach gelebt nach dem Motto: Schwerter zu Torpfosten. Wenn das Helmut Kohl erlebt hätte: Tortrunken jubelten die Windräder von „diesem unserem größten Sieg“ und der „triumphalsten Niederlage, die wir je errungen haben“.
Ein komischer Gegner
Derweil wurde ein Milizionär auf der Tribüne aufgeklärt, daß diese Dynamo-Mannschaft nicht, wie im Ostblock üblich, „eine Mannschaft der Staatssicherheit oder des Innenministeriums“ war. Der Platzwart verwand seine Enttäuschung, daß der Gegner zum „Länderspiel“ keine Deutschlandfahne mitgebracht hatte, und die sowjetischen Spieler überlegten noch immer, was das nur für ein komischer Gegner gewesen war, der Trikots mit kyrillischen Buchstaben trug und ihnen statt eines normalen Wimpels ein kleines ballverziertes Windrad mit Sonnenkollektor geschenkt hatte.
Die Spieler hatten nämlich am wenigsten mitbekommen. Und abends, beim Bankett, kamen nur Präsident, Manager, Arzt und die Trainer des Clubs, aber kein einziger Spieler. Warum? Schulterzucken. Erklärungsbemühungen: Das sei nicht üblich. Und: Es gebe Alkohol, erklärte Cinik-Präsident Alexandr Chromow, und die Spieler tränken nicht, und überhaupt seien sie lieber bei ihren Familien. Doch die widerstandsgewohnten Dynamos ließen nicht locker. Ergebnis: Eilig arrangierten die düpierten Chromov und Co. ein Spieler-Treffen für den nächsten Morgen bei Kaffee, Eis und Joghurt. Eine verspätete dritte Halbzeit, die Vermutungen bestätigte und Folgen haben kann. Beim Gastspiel einer CSSR-Mannschaft sei ihnen ähnliches schon einmal passiert, sagten die Spieler, wenn die Chromows grad woanders saßen, sie hätten nie etwas von einem Treffen gewußt: „Die Perestroika im Fußball“, sagte einer, „ist noch lange nicht soweit.“
Das weitestgehende Gespräch hatte unbemerkt der dynamische Generalsekretär geführt, mit Ciniks überragendem Libero und Ex-Jugendnationalspieler Igor Makarow: „Er hat gesagt, er würde gern in der BRD spielen, er ist 29, somit im offiziellen Wechselalter. Ich habe ihm gesagt, Igor, ich bin Pragmatiker, wir sind beide Lehrer von Beruf, da könntest du bei Dynamo nicht nur spielen, sondern auch sportorganisatorische Aufgaben übernehmen, das Training leiten und wahrscheinlich ließe sich im sportpädagogischen Bereich auch was über unsere Hochschule in Kassel machen.“ Makarow nimmt das Angebot ernst: „Igor hat gesagt, mit dem, was ich verdiene, 2.500 Mark netto, wäre er zufrieden.“
Im Februar 1990 kommt Cinik Jaroslawl zum Gegenbesuch in die Partnerstadt Kassel. Bei den vielen Gönnern und Sponsoren, die Dynamo Windrad aufgrund seiner Popularität bundesweit hat, könnten Gehalt und möglicherweise auch eine Ablösesumme durchaus finanzierbar sein. Und Igor Makarow, der erste Russe in einer westdeutschen Kreisliga, müßte sich gar nicht erst mit so merkwürdigen Namen im Geist der Jahrhundertwende wie Preußen, Borussia, Eintracht und Alemannia herumschlagen, sondern er spielte bei einem Club mit heimatlichem Klang: bei Dynamo eben.
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