: Die Angst vor der Freiheit
■ Theatre de la mie de pain gastierte im Oldenburger Kultursommer
So ist es nun mal im richtigen Leben: Wir Menschen begegnen uns als Charaktermasken. Wir sind höflich zueinander, selbstbeherrscht, unauffallend.
Freiheit
auf der Bühne...
In dem Pantomime-Stück „Seance Friction“ des französischen Theatre de la mie du pain geht es jedoch schon sehr bald drunter und drüber: Die sich zufällig treffenden Individuen beschimpfen sich in aufwallenden Tiraden, lassen Sadismus, Habgier, Lüsternheit, Neid und Perversion, all jene unterdrückten Triebe aufeinander zugehen wie wild aufgestachelte Kampfhähne.
Es passiert sogar, daß sie sich gegen eine Autorität auflehnen und sie beseitigen. Jedoch, die befreiten Individuen zeigen sich un
fähig, ihr Leben selbst in die Hand zu nehemen, und unterwerfen sich erneut einer Autorität, die ihrem Leben einen Sinn geben soll.
Wie schon die Aufführung des Essener Folkwang-Studios vor einer Woche auf dem Schloßplatz verarbeitet das Theatre de la mie de pain Fragmente aus der Arbeit Wilhelm Reichs, der die Befreiung von der Triebunterdrückung „die einzig reale Hoffnung“ nennt, „das gesellschaftliche Elend einmal zu bewältigen“.
Die brechend volle Cäcilienhalle in Oldenburg krachte vor berstendem Lachen. Das Begleitheft erklärt: „Wenn wir eine Wirklichkeit aufleben lassen wollen, so ist es mit leichter Hand und mit guter Laune, in der Hoffnung, daß der Zuschauer durch das Lachen hindurch mit uns gemeinsam
ein paar Fragen stellt, die keinen Anspruch auf Originalität erheben, die aber nichtsdestotrotz hoch brisant sind.“
Auch wenn die anarchischen Turbulenzen im Laufe der Aufführung etwas an Spannkraft verloren, weil die Gags sich tausende Male wiederholten, so hat die Pantomime-Gruppe ihr Ziel erreicht: kritisches, befreiendes Lachen.
... Freiheitchen
beim Bier
Später beim Bier, trafen wir, das Publikum, uns dann wieder. Wir hatten unsere Charaktermasken auf Hochglanz poliert, waren höflich, selbstbeherrscht, unauffallend, aber doch ein kleines Stück von unseren mitmenschlichen Ängsten befreit.
Iko Andrae
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