: Bienen- und Bürokratenstiche
■ In Tempelhof darf ein Kind mit Bienenallergie aus bürokratischen Erwägungen nicht in die KiTa, in der ihre Mutter arbeitet
Ein Bienenstich kann bei der vierjährigen Annelie unter Umständen tödliche Folgen haben. Sie leidet unter einer Allergie gegen Bienenstiche, und wenn sie nicht binnen 15 Minuten behandelt wird, könnte es bei ihr zu einem anaphylaktischen Schock kommen, einem Allergie-Schock, der nicht selten mit dem Tode endet. Als Christine Nüßer die Überempfindlichkeit ihrer Tochter entdeckte, reagierte sie schnell. Ein Allergologe packte ihr eine Batterie von Medikamenten ein, die Annelie im Falle eines Falles zu verabreichen seien. Annelie trägt jetzt eine „Hundemarke“, die sie als Allergikerin ausweist.
Da Christine Nüßer Erzieherin ist und in einer KiTa in Lichtenrade arbeitet, die 20 Fußminuten von der KiTa ihrer Tochter entfernt liegt, stellte sie den Antrag, daß Annelie in ihre KiTa verlegt würde. Begründung: Niemand anderes außer ihr selbst könne die Verantwortung für das Leben ihrer Tochter übernehmen. Eine reine Formsache, sollte man denken. Es kam anders. Der zuständige Stadtrat für Jugend und Sport im Bezirksamt Tempelhof, Udo Keil, stellte sich quer. Aus pädagogischen Gründen sei es nicht sinnvoll, daß ein Kind in der KiTa-Gruppe ihrer Mutter untergebracht wird. „Entweder wird das Mädchen extrem benachteiligt oder den anderen Kindern gegenüber bevorzugt behandelt.“ Das sei Konsens unter Erziehern.
Der Personalrat des Bezirksamtes war entsetzt, sprach beim Bürgermeister vor und versuchte den Stadtrat Keil wegen der Härte des Falles umzustimmen. Bisher Fehlanzeige. Einziges Ergebnis: Annelie soll vom Amtsarzt untersucht werden, ob sie überhaupt „KiTa-tauglich“ ist.
Auf einer Pressekonferenz am Mittwoch schilderte der Personalrat des Bezirksamtes, Clarence Koch, die Folgen für Annelie und ihre Mutter. Wenn der Amtsarzt das Mädchen für „untauglich“ hält, muß Christine Nüßer ihren Job aufgeben. Sie ist verheiratet und Mutter zweier weiterer Kinder und auf den Verdienst angewiesen. Wenn Annelie „tauglich“ ist, bleibt immer noch zu klären, ob sie in die KiTa darf, in der ihre Mutter arbeitet. Falls nein, müßte Frau Nüßer ebenfalls kündigen. Die Betreuung durch andere Erzieher wäre zwar denkbar, doch schon aus rechtlichen Gründen sei es nicht möglich, daß ein anderer Mitarbeiter Annelie notfalls eine Spritze verpaßt.
Stadtrat Keil (CDU) schildert den Fall anders. „Vorsichtig gesprochen“, nennt er Christine Nüßer „sehr emotional.“ Offenbar habe sie extreme Ängste, daß ihrem Kind etwas zustößt. In jeder KiTa, stellt er die Angaben des Personalrates richtig, sei eine Kinderkrankenschwester, die Medikamente verabreichen könne. Im Übrigen werde auf die Untersuchung des Amtsarztes gewartet. Die KiTas seien noch bis zum 3.September geschlossen und Annelie und ihre Mutter zu Hause. Auch sei die Zeit für Bienenstiche ja bald vorbei. Entschieden wird, wenn die Ferien zu Ende sind. „Was aber“, fragt Udo Keil, „macht Frau Nüßer, wenn das Kind in die Schule kommt? Will sie sich jeden Tag vor die Tür setzen?“
lus
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