: „Politik ist nicht Logik“
Ein Gespräch mit Mavrik Vulfsons, Gründungsmitglied der Volksfront Lettlands und Mitglied der Kommission zur Bewertung des Hitler-Stalin-Paktes ■ I N T E R V I E W
taz: Herr Vulfsons, Sie sind seit 50 Jahren KP-Mitglied. Sie waren Soldat der Roten Armee, Propagandaoffizier, nach dem Krieg Dozent für Geschichte und Publizist. Zugleich sind Sie Gründungsmitglied der lettischen Volksfront. Seit 1987 haben Sie sich den Forderungen der demokratischen Opposition angeschlossen, und letztes Jahr haben Sie zum erstenmal in Lettland das „geheime Zusatzprotokoll“ zum Hitler-Stalin -Pakt auf dem Schriftstellerplenum öffentlich verlesen eine politische Sensation in Lettland für 1988. Als erster prominenter Kommunist haben Sie öffentlich die Eingliederung der baltischen Staaten in die Sowjetunion als Okkupation qualifiziert. Dafür mußten Sie sich von den Parteiorthodoxen beschimpfen lassen. Was hat Sie dazu bewogen?
Vulfsons: Dieser Beschluß ist ja nicht an einem Tage gereift. Ich habe öfters über den 23.August 1939 geschrieben und habe seit 1985 in allen Privatgesprächen und auch in Vorträgen die Sache anders dargestellt als in der offiziellen Presse oder in meinen eigenen früheren Artikeln. Ich habe erklärt, daß man die Bedeutung der revolutionären Bewegung in Lettland übertreiben und den sowjetischen Einmarsch und das sowjetische Ultimatum vom 16.6. 1940 an die damalige lettische Regierung Ulmanis, abzudanken und eine andere Regierung einzusetzen, unterschätzt hat. Für mich ist es eine allmähliche Entwicklung gewesen. Mit der Perestroika und Gorbatschow, mit der Aktivierung der gesamten politischen Szene in Lettland bekam ich immer mehr dringende Briefe meiner Leser und meines Auditoriums in Rundfunk und Fernsehen, in denen stand, daß die Zeit gekommen ist, die volle Wahrheit über das Jahr 1939 und 1940 zu sagen. Parallel hatte ich viel mehr Material über diese Zusatzprotokolle vom Generalkonsulat der Bundesrepublik erhalten. So entstand meine vollkommene Überzeugung, daß mit diesem Gerede über eine revolutionäre Situation und über eine entscheidende Rolle der Kommunistischen Partei damals ein Ende gemacht und klipp und klar die Wahrheit gesagt werden muß.
Wie lautet diese Wahrheit?
Daß am 23.August 1939 das Schicksal zweier und einen Monat später dreier baltischer Staaten und derer Völker determiniert wurde. Es ist klargeworden, daß Estland, Lettland und Litauen durch das erste geheime Zusatzprotokoll vom 23.August und das zweite Zusatzprotokoll vom 28.September zur sowjetischen Einflußspäre proklamiert wurden. Dabei war es aus den vorhergehenden Verhandlungen zwischen sowjetischen und deutschen Diplomaten klar ersichtlich, daß die Sowjetunion jedes Recht auf jede Art von Tätigkeit und Wirkung in diesem Raum hat und daß Deuschland all dies akzeptieren wird.
Wie haben Sie damals 1939/40 diese Ereignisse beurteilt?
So wie wahrscheinlich alle Kommunisten und kommunistischen Jugendlichen Lettlands das damals beurteilt haben: als eine Rettung Lettlands vor einer drohenden Aggression Deutschlands. Zusätzlich schätzte ich die Ereignisse auch von einem jüdischen Standpunkt ein: Ein Vertrag mit der Sowjetunion und auch der Einmarsch der Roten Armee schienen mir ein Schutzwall gegen eine Vernichtung der jüdischen Bevölkerung von Lettland zu sein. Meine Überzeugung war, daß der Einmarsch der Roten Armee Lettland vor dem Krieg retten kann und Lettland zu einer progressiven Entwicklung führen könnte, etwa in der Art wie in der Mongolei, also noch ein sozialistischer Staat, der mit der Sowjetunion verbündet sein und eine gewisse staatliche Unabhängigkeit behalten wird.
Sie haben Zweifel bekommen?
Ich will ganz redlich bleiben. Da es nachher zum Krieg kam und wir während der Kriegszeit einwandfrei auf seiten der Sowjetunion standen und den Feind in Hitlerdeutschland sahen, wurden diese Zweifel während des Kriegs teilweise abgebaut. Wir alle dachten damals: Nun ja, es waren Mängel, Eile, der Krieg stand schon vor der Tür.
Die Deportation.
Die Deportation hatte eine Schockwirkung. Es waren viele Leute, die ich kannte - zwar nicht so nah, daß ich für jeden bürgen konnte. Aber daß die Hälfte des Offizierskorps Feinde seien, konnte ich mir nicht vorstellen.
Und die Deportation der Zivilbevölkerung?
Das habe ich nicht gesehen, ich war ja in der Armee. Man hat es mir dann erzählt, als ich nach Hause kam. Das war furchtbar. Obwohl es bei uns leider immer so dargestellt wurde, daß nur Letten deportiert wurden; in Wirklichkeit wurden ungefähr 13.500 Letten und 5.500 Juden deportiert. Viele meiner Bekannten wurden verschleppt.
Nun ist mit dem Hitler-Stalin-Pakt damals von heute auf morgen der antifaschistische Kampf eingestellt worden. Wie hat Sie das getroffen?
In dieser Frage habe ich nie eine Wendung gemacht. Ich habe mich immer als Antifaschist verstanden und betont, daß nicht England und Frankreich, sondern das faschistische Deutschland der kommende Feind sein wird. Dafür habe ich eine Parteirüge bekommen. Ganz am Anfang des Kriegs gegen die Sowjetunion, noch bevor die sowjetische Regierung einen Vertrag mit England abschloß, habe ich eine solche Forderung vertreten. Ich bekam eine Rüge, weil ich es zeitlich falsch, vor dem Schritt der Regierung gesagt hatte.
Es gab am 31.Mai und 1.Juni dieses Jahres auf dem Kongreß der Volksdeputierten eine bewegte Diskussion über den Hitler -Stalin-Pakt und die Geheimprotokolle. Das Ergebnis war die Bildung einer „Kommission zur politischen und juristischen Bewertung des sowjetisch-deutschen Nichtangriffsvertrags aus dem Jahr 1939“. Sie sind für die lettische Seite Kommissionsmitglied. Hat die Kommission eigentlich den Auftrag, die Geheimprotokolle zu untersuchen, oder hat sich Gorbatschows Vorschlag durchgesetzt, die Kommission solle sich nur dem Pakt widmen, da es ja keine Originale der Protokolle gebe?
Der Bestand der Kommission wurde geändert, wir bekamen einen Teil von Personen mit sicher konservativem Standpunkt. Nun bestehen zwei Auffassungen. Gorbatschow hat einfach gesagt: Es gebe keine Protokolle, und deshalb könne man nicht darüber sprechen. Ich habe mich zwei Tage mit dem Problem der Authentizität der Protokolle beschäftigt und bin im Archiv gewesen. Drei Momente zeigen, daß die Protokolle doch echt gewesen sind. Erstens die Genesis, das heißt der Weg zu diesem Protokoll. In jedem Gespräch seit dem 15.August spricht Molotow davon, daß man bei dieser Verständigung zwischen Rußland und Deutschland die deutschen Vorschläge präzisieren müsse. Der deutsche Vorschlag war, daß das baltische Problem als drittes Problem fungieren solle. Molotow fordert dagegen, daß man ein spezielles Protokoll zusammenstellen solle und daß dieses Protokoll ein integrierter Teil des Vertrags sein müsse. Das geht wie eine rote Linie durch das Ganze.
Das zweite Moment, das die Existenz der Protokolle beweist, sind die Zeugen. Es gibt doch viele direkte und indirekte Zeugen des Ereignisses als solches. Das dritte Moment ist die Erfüllung. Alles geht genau den Weg. Nicht, daß man vorausgesehen hätte, daß man am 17.Juni 1940 in Lettland einmarschiert. Natürlich wurden die Termine vom Tempo der deutschen Siege im Westen bestimmt. - Das sind also die drei Punkte. Von seiten der litauischen und estnischen Kollegen wurde kategorisch gefordert, daß die Kommission nicht kurzfristig arbeiten soll und bis zum 23.August ein Dokument fertiggestellt wird, in dem ja oder nein zur Authentizität der Protokolle gesagt wird. Und daß nachher eine politische und juristische Auswertung der Protokolle stattfindet.
Ist diese Debatte um die Authentizität der Geheimprotokolle angesichts der vielen Momente, die dafür sprechen, nicht grotesk?
Nein, für uns ist die Authentizität ein außerordentlich wichtiges politisches Ereignis, wenn sie von Moskau anerkannt wird. Es gibt jetzt eine politische Versteifung in Moskau: die Angst vor den emotionalen, politischen und moralischen Folgen einer Anerkennung.
Welche Bedeutung kommt dann der Beurteilung des Paktes selbst zu?
Wir denken überhaupt nicht über den Pakt nach. Wir müssen vom Pakt fort und nur zu den Schweinereien der Protokolle kommen. Das war ein Verrat an sechs Völkern. Drei von ihnen haben gelitten, sind aber doch mit heiler Haut davongekommen. Und drei sind geblieben als Kolonien der Sowjetunion. So sehe ich es.
Interview: Johannes Vollmer
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