Letzte Heimkehr in die Fremde

■ Franz Hessel und die Seinen im Exil

Als Autor hat er Datierungen persönlicher oder politischer Ereignisse meist vermieden: Er ist getaufter Jude und harrt aus in vereinsamter und gefährdeter Schattenexistenz in der Reichshauptstadt des Jahres 1938. Man bewegt ihn, überredet ihn, den Eigensinnigen, zu einer Reise. Er sitzt im Zug Berlin-Paris. Namen zweier Städte, die von ihm schon früher als „Schicksal und Notwendigkeit“ begriffen wurden. Wie so oft in jenen Zeiten, ist es dem Geschick besorgter Freunde zu verdanken, unbehelligt über die Grenze gelangt zu sein.

Im Zug überkommt ihn die Müdigkeit. Dem „seligen“ Sog nachgebend, der ihm Vergangenheit und Gegenwart glückhaft in eins verschmelzen läßt, steigen Bilder auf aus dem Dämmer des Halbschlafs: Gedankenbilder, Erinnerungsbilder fremder und befreundeter, altvertrauter Menschen und Dinge. Und jetzt erst, nachdem die Grenze hinter ihm liegt, wo dies alles vielleicht doch noch gar nicht wahr ist, da kommt die „wahre Angst“, jetzt, wo er sie nur träumt. Er ist froh darüber, daß keiner ihn erwartet, da er doch noch keine Gegenwart zu bieten hat. Diese gelinde Verwirrung der Zeiten dauert an, als er längst schon angekommen ist am Gare du Nord, dem Fluchtpunkt für so viele, die lange vor ihm aus Deutschland gekommen sind - erste, überfüllte Zwischenstation einer ungewissen und unsentimentalen Reise. „Letzte Heimkehr“ also nach einem Ort, der keine Heimat mehr sein kann, auch wenn man dort die fruchtbarsten Jahre seiner Jugend verbrachte. Paris war ja Trost und Refugium des flanierenden Kosmopoliten, gerade weil es erlaubte, es zu lieben, nicht von Angesicht zu Angesicht, eher von der Seite „als Fremder am Rande des Lebens“. Aber das war vor 1914, bis dann die Chauvinismen die Atmosphäre vergifteten. Öfter schon hat er die schmerzhafte Erfahrung der mit dem Ersten Weltkrieg zerborstenen Kulturachse Paris-Berlin resümiert. Nun aber soll er mit ihrer bittersten Variante im bevorstehenden Exil konfrontiert werden: als unfreiwilliger „Zaungast“, als „feindlicher Ausländer“. „Heimkehr“ kann er es dennoch nennen, weil es in der störrischen Konsequenz eines paradoxen Wahrnehmungsphänomens liegt, wo alles Gegebene schon Erinnerung ist und nur aus den Bildern, in denen sich die Fragmente des eh schon Verlorenen sammeln, die Hoffnung keimt.

Franz Hessel, von dem hier die Rede ist, hinter dessen Rücken nun die Trümmer der Geschichte ins Unermeßliche sich aufhäufen, ihn braucht man hier nicht mehr bekannt zu machen. Der Arsenal-Verlag hat ein kürzlich aufgefundenes autobiographisches Erzählfragment Hessels, vermutlich während seiner Lagerhaft im südfranzösischen Les Milles entstanden, im Rahmen einer Textsammlung veröffentlicht. Es wird wohl Hessels letzter Text genannt werden dürfen, in dem noch einmal wesentliche Elemente seiner gleichermaßen distanziert -resignativen wie spielerisch-heiteren Art literarischer Wahrnehmung versammelt sind. Gewiß: Hessel glaubt sich bestimmt, einem Lumpensammler gleich in ewiger Wanderschaft auch auf den „Trümmern des eigenen Lebens zu hausen“, seine Praxis ästhetischer Erfahrung eingeschlossen. Doch unbeirrt scheint er auch dem Abgefeimtesten noch Genuß abzugewinnen: „Wir sind schon an der anderen Grenze. Es ist heller Nachmittag. Gleitendes Glück. (...) Hinter mir Nacht, vor mir Tag, daß mich keiner sehen mag - rollen die Räder. Ich summe es mit, sinnlos, in den sinkenden Tag.“ Schon einmal, in seinem ersten Roman, diente ihm dieser Kinderreim dazu, ein Glück zu beschreiben, das Kinder im Märchen wohl empfinden, wenn sie sich retten, leise dieses Lied vor sich hinträllernd. So nimmt es auch nicht Wunder, daß dieser weise Beobachter, der sich immer auch schon „jenseits“ wähnt, nicht eigentlich an den Folgen und Entbehrungen der Lagerhaft gestorben zu sein scheint. Geduldig und gelassen eher ist er in diesen Tod hineingeglitten.

Dieses Bild verdichtend und gleichzeitig zur Familiensaga der Hessels in jenen „schwarzen Jahren“ erweiternd, sind eine Anzahl bisher (mit einer Ausnahme) unveröffentlichter Texte um das Hessel-Fragment als „heimliches“ Zentrum gruppiert. Sehr unterschiedlich in Charakter und literarischem Anspruch, doch fast alle von bestechender Zeitgenossenschaft und persönlicher Authentizität: Da wären die Skizzen seiner Freunde: eine aus der Feder Wilhelm Speyers, die ein wenig gönnerhaft geraten ist, im Ton mehr professorales Gutachten denn Charakterporträt. Anders dagegen A. Polgar, der sich mit sanfter Ironie in diesen so unkämpferischen Zeitgenossen einfühlt. Was Hessel durch seine Flucht erspart geblieben ist, schildert seine Frau Helen Hessel-Grund in einem spontan verfaßten Bericht: Beobachtungen, Stimmungen, Schicksale der Reichspogromnacht. Und sie liefert einen höchst lesenswerten, lebendigen Einblick in ihre Zeit mit dem wunderlichen Hessel, eine Zeit, die sie als „Ehe“ nicht verstanden wissen will. Als Pariser Modekorrespondentin der 'Frankfurter Zeitung‘ repräsentierte sie genau den Typus der unabhängigen „neuen Frau“ jener Jahre, den man in Hessels Texten so oft beschrieben findet.

Wer sich außerdem der hier aufgenommenen bewegenden Vorträge der beiden Söhne Hessels in Berlin erinnern sollte, wie sie über ihre so unterschiedlichen Wege und Entscheidungen im Spannungsfeld von Christentum und Judentum, Deutschland und Frankreich, Berlin und Paris berichteten, nüchtern eher der eine, abschweifend fabulierend der andere, der wird es sich besorgen, dieses kleine Bändchen.

Florian Bungart

Letzte Heimkehr nach Paris. Franz Hessel und die Seinen im Exil. Hrsg. von Manfred Flügge; Verlag Das Arsenal, Berlin 1989, 180 Seiten mit vielen Abbildungen, engl. Broschur, DM 26,80