: Nationalismus gegen Internationalismus
Adam Schaff geht der Frage nach, warum es trotz der Doktrin des Internationalismus in den realsozialistischen Ländern Nationalitätenkonflikte gibt ■ E S S A Y
Eine der schockierendsten Erscheinungen der Länder des realexistierenden Sozialismus sind die Spuren nationalistischer, chauvinistischer, ja sogar rassistischer Empfindungen.
Verträgt sich das mit der Doktrin dieser Länder, die dort allgemein Marxismus-Leninismus genannt wird? Das ist natürlich eine rhetorische Frage, denn eine der Grundlagen dieser Doktrin ist der Internationalismus. Das Proletariat, so schrieben Marx und Engels im Manifest, hat kein Vaterland. Diese These war die Grundlage der Aufforderung „Proletarier aller Länder vereinigt euch“. Der Internationalismus ist eine der Stärken der Arbeiterbewegung. Vor seinen Symbolen verbeugt sich die Linke wie vor Heiligenbildern. Und doch blüht in den Ländern des realexistierenden Sozialismus auf allen Ebenen ein wütender Nationalismus: in den Beziehungen zwischen unterschiedlichen Nationalitäten in einem Staat und in den Beziehungen zwischen einzelnen Staaten. Auch Rassismus (Antisemitismus) gibt es.
Es gab Spannungen zwischen China und der UdSSR, zwischen China und Vietnam (mit grausamen Kämpfen zwischen den Armeen zweier sozialistischer Länder), zwischen Vietnam und Kambodscha. Die Beziehungen zwischen Ungarn und Rumänien sind sehr gespannt, und die ungarische Bevölkerung in Rumänien wird massiv unterdrückt. Das Sowjetimperium löst sich auf. Die Spannungen zwischen seinen Bevölkerungsgruppen wachsen: Armenier, Aserbaidschaner, Georgier, die baltischen Republiken, die zentralasiatischen Republiken, die Ukraine, nicht zu reden von den Satellitenstaaten, allen voran Polen. Glücklicherweise gibt es den Antisemitismus, der all diese Nationalitäten eint gegen die Juden. Man mag die demokratischen Errungenschaften der UdSSR loben, die es einer faschistischen Organisation wie dem Pamiath, die die Traditionen der Schwarzhundertschaften weiterführt, erlauben, als Massenorganisation zu operieren und mit ihren Sturmtruppen viele fortschrittliche Menschen zu terrorisieren. Vernünftiger wäre es freilich, sich dafür zu schämen, daß siebzig Jahre nach der Oktoberrevolution solche Dinge möglich sind. Hatten die recht, die - wie damals Hitler und wie heute Pamjat - erklärten, daß diese Revolution vor allem „ein Werk der Juden“ war?
Ich glaube, diese wenigen Beispiele genügen und wir müssen nicht noch auf die sozialistischen Länder honoris causa, vor allem in Afrika, eingehen, unter denen vor allem Äthiopien mit seinen Kriegen gegen Eritrea, Somalia usw. hervorsticht. Die Verantwortung für das, was in diesen Ländern passiert, tragen die sie finanzierenden Mäzene. Wie auch immer, die Länder des realexistierenden Sozialismus scheinen in einer Flut nationalistischer Empfindungen unterzugehen. Ist in ihnen noch Platz für Internationalismus? Gilt diese Formel noch oder ist sie ganz und gar zu einem Teil der herrschenden verbalen Diarrhoe geworden?
Eine Frage stellt sich unausweichlich: Warum stehen die Dinge jetzt so, wenn doch das exakte Gegenteil behauptet und verfolgt wurde?
Es gibt darauf keine alles erklärende Antwort. In jedem Fall setzen sich allgemeine Mechanismen durch, aber auch ganz spezifische Elemente, die mit der Geschichte eines jeden einzelnen Landes und jeder einzelnen Nation zu tun haben.
Einer der ganz allgemeinen Gründe ist die Entfremdung von der Revolution. Die Revolution ist wie andere Produkte Menschenwerk und als solches beginnt sie unter bestimmten Umständen, wenn die Bedingungen zu ihrer Realisierung fehlen, sich von den Absichten der Revolutionäre zu emanzipieren, läuft in die entgegengesetzte Richtung und gefährdet sogar deren Leben. Im Fall der sozialen Revolution sind unverzichtbare, also noch nicht die ausreichenden Bedingungen: die objektiven (ökonomischen) Faktoren und die subjektiven (der gesellschaftliche Konsens).
Der gesellschaftliche Konsens erfordert ein System der Demokratie und der Freiheit im weiten Sinn dieser Worte. Fehlen sie, so verkommt die Revolution. Eines der Symptome der Entfremdung ist der Nationalismus. Man kann ihn mit den Zauberformeln des Internationalismus bekämpfen, aber das hilft nichts. Die objektive Situation hat zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen nicht Brüderlichkeit, sondern Haß erzeugt. Vier Gründe gibt es dafür: die atavistische fremdenfeindliche Aktivität; die Aversion, die zu Haß werden kann, gegen den wirtschaftlichen oder politischen Rivalen; die Verachtung gegenüber Menschen, die in Armut leben; die Suche nach dem Sündenbock, der verantwortlich gemacht wird für das schlechte Funktionieren der Gesellschaft.
Das sind die allgemeinen Regeln. Sie können sich miteinander verbinden, sie können aber auch - und das ist der Fall in den sozialistischen Ländern - als Reaktion auf eine Erbsünde verstanden werden: die Verwirklichung der sozialistischen Revolution, obwohl die dafür erforderlichen objektiven und subjektiven Voraussetzungen fehlten. Marx, das muß man klarstellen, hat damit nichts zu tun. Im Gegenteil, seine Theorie untersagte ein derartiges Verhalten. Sie wurde aber umgebogen und von Stalin unter dem Namen Marxismus-Leninismus kodifiziert. Man muß das betonen, da zur Zeit angesichts der Krise der Ideologie des Sozialismus gerade als Produkt des Bewußtseins dieser Krise, eine neue internationale linke Bewegung in Europa entsteht, die sich „Sozialismus der Zukunft“ nennt. Sie begann ihre Aktivitäten im Mai dieses Jahres in Madrid.
Um die Krise der Linken besser zu verstehen, muß man eine zusätzliche Bemerkung machen.
Solange theoretische Auffassungen und Ideologien sich nur im intellektuellen Umfeld bewegen, können ihre möglichen Verformungen in Diskussionen leicht bekämpft werden. Sowie sie aber Teil der Praxis sind und sich mit den Interessen des Staates verschmelzen - zumal wenn es sich um eine der Großmächte handelt - , wird die Ideologie letzteren unterworfen. Das gleiche geschieht mit Nationalismus und Internationalismus, wenn sie in den Dienst der Politik einer Supermacht genommen werden. Aus verschiedenen Gründen, die eingehend untersucht werden müßten, ist genau das in der Sowjetunion geschehen. Das hat verheerende Folgen für die revolutionären Ideale gehabt.
Ich schließe diese Analyse mit einer im Westen wenig bekannten Information, die ein Licht auf die hier behandelten Probleme wirft.
In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts gründeten ein paar junge Aristokraten, Offiziere der zaristischen Armee, eine revolutionäre Organisation, die die Bauernbefreiung und die Einführung einer konstitutionellen Monarchie anstrebte. Die Verschwörung wurde aufgedeckt und die Männer nach Sibirien in die Verbannung geschickt. Die meisten starben da. Die Organisation nannte sich die Dekabristen, und einer ihrer wichtigsten Männer war Michail Lunin, Adjudant des Großfürsten Konstantin. Er starb in der Verbannung. In den zwanziger Jahren war er in Paris gewesen und im Salon der Baroneß Roger traf er Saint Simon. Lunin machte Notizen über sein Gespräch mit dem Frühsozialisten. Sie sind erhalten geblieben. Ich möchte mit einem Zitat daraus schließen: „'Seit den Tagen Peter des Großen‘, erklärte Saint Simon, 'habt ihr eure Grenzen immer weiter gezogen, aber ihr werdet euch in diesen Räumen verlieren. Auch Rom ist an seinen Siegen zugrundegegangen...'“
Adam Schaff (Polnischer Philosoph, von 1957 bis 68 Leiter des Institut
für Philosophie und Soziologie de
polnischen Akademie der Wissen
schaften; von 1955 bis 68 Mitglie
des ZK der Polnischen Vereinigte
Arbeiterpartei; seit 1972 Honorar
professor in Wien
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