: Es gibt keine andere Lösung
Zur Fluchtsituation an der ungarisch-österreichischen Grenze ■ G A S T K O M M E N T A R
Wer die ökonomischen Katastrophenmeldungen aus Polen und der Sowjetunion verfolgt, muß die DDR als Hort der Stabilität empfinden. Trotz Versorgungsmängenl und Wirtschaftsproblemen werden der Lebensstandard gehalten und die sozialen Errungenschaften verteidigt. Mit den stetig steigenden Besucherzahlen im Reiseverkehr in die Bundesrepublik, den neuen Reiseregelungen und einer Rekordzahl an genehmigten Ausreiseanträgen soll politischer Druck abgefangen werden. Dieses Bild paßt gut in die Optik wohlwollender westlicher Freunde der DDR, die zum Bleiben, zur Mäßigung und zur Geduld mit diesem System raten.
Was treibt dann aber normale Bürger mit Familie zum lebensgefährlichen Sprung über die Mauer und zur nächtlichen Flucht über die ungarische Grenze? Abenteuerlust und politischer Radikalismus sind das bestimmt nicht. Es ist vielmehr eine Grunderfahrung, die sich in der DDR immer stärker durchsetzt: All dem, was jetzt von oben kommt, ist nicht zu trauen. Wenn eine Reiseregelung ohne klare Rechtsgrundlage die andere jagt, wenn die Genehmigungspraxis genauso undurchschaubar und willkürlich ist wie die Verweigerungspraxis, wenn die Möchtegern-Reformer von gestern sich in ihr Gegenteil verwandeln, wenn die Panzermassaker in China auf der offenen Bühne des DDR -Parlaments gefeiert werden, schlägt der Frust für viele um in blanke Angst. Eine Angst, die lähmen kann, zum Widerstand wird oder in die Flucht treibt - über jede noch offene Grenze.
Alles, was jetzt zwischen Bonn, Budapest und Ost-Berlin hin - und herverhandelt wird, kann die einzig wirkliche Lösung des Problems nicht ersetzen: Freizügigkeit für alle DDR -Bürger, Recht auf Reisen, auf Rückkehr und auch auf Verlassen des Landes. Die Frage ist nur, wer dieses Recht erkämpfen soll.
Wolfgang Templin, Mitglied der Initiative „Frieden und Menschenrechte“, Berlin (DDR); z.Zt. Bochum
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen