„Nicht ablenken lassen“

Rosalie Bertell hält das Militär für den Hauptschuldigen an Strahlenerkrankungen  ■ I N T E R V I E W

Rosalie Bertell ist Doktorin der Biometrie, der Wissenschaft, die medizinische Phänomene mißt. Sie betreibt Krebsforschung seit Anfang der siebziger Jahre: bei japanischen Atomarbeitern, auf Rongelap, in Malaysia und in der Umgebung amerikanischer AKWs. Bertell ist Beraterin des Weltkirchenrats und Leiterin des „International Institute of Concern for Public Health“ in Toronto, Kanada. 1986 erhielt sie zusammen mit Alice Stewart den „Alternativen Nobelpreis“. Ihr Buch „Keine akute Gefahr?“ sorgte für Schlagzeilen. Sie gehört zum Orden der „Grauen Nonnen“.

taz: Warum waren Sie nicht auf der Konferenz über radioaktive Niedrigstrahlung in Birmingham?

Bertell: Dort werden Tote abgeschätzt und man streitet sich darum, wieviel es sein könnten, ohne zu sagen, was die Menschen dagegen tun können.

Sie sind doch auch nicht schlecht im Leichen abschätzen. 16 Millionen Tote gehen Ihrer Meinung nach auf das Konto von künstlicher Radioaktivität.

Das sind sogar alte Zahlen. Nach der Revision der Hiroschima-Daten liegt die vorsichtige, konservative Schätzung mindestens bei 32 Millionen Menschen weltweit seit 1945. Staatliche Schätzungen gibt es nicht, und wenn, werden militärische Opfer nicht gezählt. Das ist eine unglaubliche Schlamperei. Meine Bestandsaufnahme beruht auf UN-Daten über radioaktive zivile und militärische Angaben und den sich daraus ergebenden Toten. Viele wissen heute etwas von den Opfern in Bikini und den Hunderttausenden von amerikanischen, britischen und französischen Rekruten, die bei Bombentests verseucht wurden. Aber wer hat von Kindern gehört, die im Hochland Boliviens an Schilddrüsenkrebs sterben? Dort regnen sich nämlich die Wolken aus dem Pazifik von den französischen Tests ab. Alle diese Opfer zählen mit. Abschätzungen sind aber nicht mein Schwerpunkt. Epidemiologische Gutachten kosten Millionen und sagen uns nichts.

Wie arbeiten Sie?

Ich will Auswege zeigen und die Beteiligten einbeziehen, die wissen oder ahnen, warum sie krank sind. So werden die Menschen ernst genommen, das geht schneller und ist billiger. Wir untersuchen nicht die Gesamtbevölkerung, sondern die sensibelsten Teile. Etwa die Menschen, die schon Schilddrüsenprobleme haben. Dort erkennt man die Auswirkungen sofort. Als wir die Auswirkungen des Normalbetriebs von AKWs untersuchten, stellten wir bei Säuglingen, die unter 2.500 Gramm Geburtsgewicht aufwiesen, erhöhte Sterblichkeit fest. Ihr Überleben hängt von einer streßfreien und sauberen Umwelt ab. Oft werden klinisch nicht erkennbare Schwächen durch Strahlung zu Krankheiten, weil die Abwehrmechanismen überfordert sind. Weltweites Phänomen ist das „Yuppie disease“. Die jungen Menschen, die zur Zeit der oberirdischen Atombombenversuche viel Milch tranken, haben Strontium und Plutonium lebenslang im Körper, sind schwächer und kriegen eher Aids.

Müssen wir unseren Lebensstil ändern?

Dioxin und Kohlenmonoxide gehen durch die Weltraumprogramme in die Stratosphäre und Ionosphäre. Das trägt entscheidend zum Treibhauseffekt bei. Weltweit ist das Atomprogramm in erster Linie militärisch. Davon sollten wir uns nicht ablenken lassen.

Interview: Wieland Giebel