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Nieder mit den atomaren Grenzwerten

Die Mutter der Niedrigstrahlungsforschung, Alice Stewart, lud die Elite der Strahlenforscher zu einer Konferenz nach Birmingham ein / Befürworter und Gegner der Atomenergie streiten über Reduzierung der Grenzwerte / Doch es bestehen heute keine grundsätzlichen Differenzen um eine Grenzwertreduzierung mehr  ■  Aus Birmingham Wieland Giebel

In den fünfziger Jahren standen in den großen Schuhgeschäften Röntgenapparate, auf denen sich zeigte, ob die neuen Schuhe passen. Unten stellte das Kind seine Füße hinein und oben konnten die Mutter und die Verkäuferin hineinsehen und den Fall diskutieren. Durch diesen fortschrittlichen Apparat mußte niemand mehr umständlich und altmodisch auf dem Schuh herumdrücken, um festzustellen, ob der große Zeh ausreichend Luft hat. Heute weiß man, daß Röntgenstrahlen gefährlich sind.

Die Frau, die das herausfand, heißt Alice Stewart, ist 84 Jahre alt und erhielt 1986 den alternativen Nobelpreis. Um das herauszufinden, untersuchte die zierliche alte Dame die Krankheitsverläufe von 30 Millionen britischen Kindern - das ist die umfangreichste Krebsuntersuchung überhaupt. „Wir arbeiten seit 1953 über tödlichen Krebs bei Kindern und haben alle Daten aus ganz Großbritannien. Wir wissen genau, wo die Kinder geboren, und in den meisten Fällen, wo sie gestorben sind.“

Jetzt hat Alice Stewart sich noch einmal einen alten Wunsch erfüllt und die Weltelite der Niedrigstrahlungsforscher nach Birmingham eingeladen. Und alle kamen, die Befürworter wie die Gegner der Atomenergie. Schon das war eine kleine Sensation. Denn die sind so verkracht wie die Anti-AKW -Bewegung und die Industrie.

Atombefürworter und

Atomgegener vertreten

Als Professor Wolfgang Köhnlein im vorigen Jahr in Münster Gleiches versucht hatte, bekam er von den Atombefürwortern einen Korb. Doch Köhnlein kam nach Birmingham, ebenso seine Kollegin Professorin Inge Schmitz-Feuerhake aus Bremen und die Forschungscrew Schmidt/Ziggel, deren Nach-Tschernobyl -Studie über gestiegene Säuglingssterblichkeit im Süden der BRD in der taz breit diskutiert wurde.

Die Bandbreite der Konferenz ging von der Grünen MdB Lilo Wollny bis zu Dr.G.Heinemann, dem Betriebsarzt mehrerer AKWs. Die konservative Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung in Neuherberg war ebenso vertreten wie Mitglieder nationaler Strahlenschutzkommissionen und der EG -Kommission. Wissenschaftler kamen aus Nordamerika, den Ostblockstaaten sowie aus Japan und Australien.

Die Diskussion über die seit zwei Jahren nach und nach veröffentlichten neuen Daten aus Hiroschima und Nagasaki beherrschte die Konferenz. Sie hat gewaltige Auswirkungen auf die Atomindustrie. Worum geht es? Die Opfer der Atombombenabwürfe vom August 1945 sind - im Jargon der Strahlenforscher - das größte Kollektiv radioaktiv verseuchter Menschen. Aber die Bewertung der Untersuchungsdaten, auf denen die heutigen Grenzwerte für Radioaktivität beruhen, sind in mehreren Punkten falsch. Die Untersuchung begann erst 1950. In den fünf Jahren zwischem dem Abwurf der Atombomben und dem Beginn der Untersuchung starben, wie man heute weiß, viele Menschen aufgrund von Immunschwäche, die durch Radioaktivität begünstigt wird. Diese Fälle tauchen in keiner Statistik auf. Außerdem entsteht Krebs erst nach 20 bis 30 Jahren, einem viel längerem Zeitraum, als man vermutete. Immer noch kommen Opfer in Hiroschima und Nagasaki hinzu. Allein in den letzten zwölf Monaten starben 4.244 an den Spätfolgen. Als Kontrollgruppe müßten Menschen herangezogen werden, die völlig unbelastet sind. Tatsächlich jedoch dienten als Kontrollgruppe Menschen, die sich nur zwei bis zehn Kilometer vom Explosionszentrum entfernt aufgehalten hatten. Sie waren also auch belastet, die Statistik wurde dadurch erheblich verfälscht.

Das seltsame Schrumpfen

der Grenzwerte

Siebzehnfach gefährlicher sei Radioaktivität als bisher angenommen, errechneten die Amerikaner Preston und Pearse vor zwei Jahren. Als ihre Studie in der Zeitschrift 'Nature‘ wenige Monate später veröffentlicht wurde, war die Gefahr angeblich nur noch elfmal so hoch. Die Korrektur erfolgte laut 'Nature‘ „halb-intuitiv“. „Die Konsequenzen aus dieser Studie“, meint Professor Rudi Nußbaum von der Portland State University, „liegen ja eigentlich auf der Hand. Man hat ursprünglich nicht nur gesagt, daß die Arbeiter in der Nukleartechnologie keinem größeren Risiko als in anderen Technologien ausgesetzt sind, im Gegenteil, man hat sogar gesagt, daß dies die weitaus sicherste Industrie sei.“ Seine Forderung: „Die Grenzwerte für Radioaktivität müssen mindestens um das Zehnfache herabgesetzt werden.“ Das aber würde das sichere Aus für die Atomindustrie bedeuten, denn diese Grenzwerte wären ökonomisch nicht mehr sinnvoll.

Konsequenz in der Bundesrepublik: Bisher durften Atomarbeiter mit höchstens fünf Rem pro Jahr belastet werden. Geht man von 40 Arbeitsjahren aus, könnte sich die Belastung auf 200 Rem addieren. Als erste Reaktion auf die Revision der Daten aus Hiroschima begrenzte Umweltminister Töpfer die Lebensdosis auf 40 Rem. Allerding gibt es zur Zeit keine Jahreshöchstdosis. „Diese Schwierigkeit für uns kann aber noch kommen“, erklärte der Betriebsarzt der Kernkraftwerke Stade, Brokdorf und Unterweser, Dr.G.Heinemann, „daß nämlich die Jahresgrenzdosis reduziert wird. In diesem Fall müssen, besonders bei alten Anlagen, unter Umständen mehr Arbeiter für einen Arbeitsvorgang eingesetzt werden als bisher üblich.“ Die radioaktive Dosis muß also auf mehr Arbeitskräfte verteilt werden, damit kein einzelner über die Höchstgrenze kommt.

Besonders bei den hochspezialisierten Ingenieuren, die bei jedem Störfall selbst vor Ort müssen und ihre Dosis abbekommen, wird das teuer. Die Industrie muß somit in Zukunft mehr Spezialisten einstellen und ausbilden sowie die Emissionen herabsetzen. Wenn in der BRD die Grenzwerte reduziert werden sollen, dann etwa um die Hälfte der bisherigen Werte. „Wie das Beispiel amerikanischer Atom-U -Boote zeigt, ließe sich technisch auch um das Zehnfache reduzieren“, erklärte E.P. Radford auf der Konferenz. Radford ist anerkannter Strahlenwissenschaftler und ehemaliger Vorsitzender der US-amerikanischen BAIR -Kommission, die die Grenzwerte in den USA solange herabgesetzt hatte, bis Radford ausgewechselt wurde.

Die Neubewertung der Hiroschima-Daten hat eine weitere Dimension: Viele Untersuchungen, die direkt im Niedrigstrahlungsbereich durchgeführt wurden, etwa an 30.000 Atomarbeitern der größten Atomanlage der Welt in Hanford im US-BundesstaatWashington, wurden bisher angezweifelt. Man ermittelte mindestens zehnmal mehr Opfer als nach den alten Hiroschima-Daten. Die Revision der Hiroschima-Daten aber bestätigt genau diese Gefahrenabschätzungen aus dem Niedrigstrahlungsbereich. Unter den Wissenschaftlern gibt es heute keine ernsthaften Einwände mehr gegen eine Reduzierung der Grenzwerte um das Zehnfache.

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