SS-Hauptsturmführer Modest Graf Korff hat „nichts gewußt“

■ Ein Bonner Richterspruch sorgt in Frankreich für Unruhe / Im November wurde der ehemalige Gestapochef von Chalons-sur-Marne freigesprochen / Die Tageszeitung 'Liberation‘ fragt: „Soll eine ganze Generation von Deutschen vom Verdacht der Komplizenschaft freigewaschen werden?“

Paris (taz) - „Die ehemaligen Nazis, die (der Justiz) entkommen konnten, genießen heute eine Unschuldsvermutung“ heute, im Jahre drei des bundesrepublikanischen Historikerstreits. Dieser Kommentar, der gestern in der liberalen französischen Tageszeitung 'Liberation‘ erschien, konstatiert eine Umkehrung der Rechtsprechung des Nürnberger Tribunals: Dort sei davon ausgegangen worden, daß jeder Angehörige der SS von der „Endlösung“ gewußt haben mußte und damit prinzipiell mitverantwortlich gewesen sei. Anlaß für den Kommentar: die Veröffentlichung der Urteilsbegründung des Bonner Schwurgerichts im Prozeß gegen den ehemaligen Gestapochef von Chalons-sur-Marne, Modest Graf Korff.

Korff war bereits am 17.November letzten Jahres freigesprochen worden. „Wegen übersetzungstechnischer Probleme“ - so der Bonner Richter Lickfett - wurde der Text den französischen Nebenklägern jedoch erst jetzt, nach acht Monaten, zugestellt. „Es konnte nicht mit der nötigen Sicherheit bewiesen werden“, heißt es in dem Dokument, „daß der Angeklagte in Anbetracht der Umstände, in denen die Deportationen stattfanden ernsthaft damit rechnen mußte, daß die Deportierten getötet werden würden.“

Die Umstände? Es waren die Monate zwischen Juni 1942 und Mai 1943. Die Zeit der Verschleppung der in Frankreich lebenden Juden. SS-Hauptsturmführer Korff kommandiert alleinverantwortlich sieben Razzien in Chalons. 184 Juden jeden Alters, von der einjährigen Eva Liechtenstein bis zur 78jährigen Helene Kahn, werden verhaftet und in Zügen nach Auschwitz transportiert. Ein einziger nur wird zurückkehren. - Hauptsturmführer Korff, wußte von nichts? Die Materialien, die der Pariser Anwalt Serge Klarsfeld dem Bonner Gericht übergeben hatte, zeigen, daß Korff, aus dem später ein gewissenhafter Ministerialrat des Bundesfinanzministeriums werden sollte, bei den Verhaftungen mit übergroßem Eifer voranging. So ließ er auch Juden deportieren, die nach der Abmachung zwischen Eichmanns Judenreferat und dem Polizeiminister des Vichy-Regimes zunächst in Frankreich bleiben sollten: transportunfähige, Juden mit französischer Staatsbürgerschaft oder Ehegatten von „Ariern“.

Das Ich-habe-nichts-gewußt des SS-Hauptsturmführers überzeugte die Bonner Richter mehr als die Ausführungen des Staatsanwalts, der sechs Jahre Gefängnis für Korff gefordert hatte. Staatsanwalt Holtfort: „Seine Stellung war zu bedeutend, und sein Rang war noch höher als derjenige Barbies. Das Gericht beruft sich auf das Fehlen von schriftlichen Dokumenten. Aber jeder, der die Naziperiode kennt, weiß, daß es über die Juden niemals schriftliche Dokumente gegeben hat. Man benutzte eine Code-Sprache und jeder wußte, was die Worte bedeuteten.“ Obwohl auch der Lyoner Gestapochef Barbie „nichts wußte“, war er 1987 von Lyoner Richtern schuldig gesprochen worden.

Aber wir befinden uns nicht in Lyon, sondern in der Beethovenstadt Bonn, die den Prozeß längst vergessen hat. Die Staatsanwaltschaft und die französischen Nebenkläger haben Revision beantragt. Denn, wie 'Liberation‘ kommentiert: „Dem Grafen Korff Unschuldsvermutung zugestehen heißt auch, eine ganze Generation von Deutschen von dem Verdacht freizuwaschen, Komplizen gewesen zu sein.“

smo