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Ungarns Parteien bereiten sich auf die Wahlen vor

Die Nachwahlen zum ungarischen Parlament an den letzten beiden Wochenenden haben der Opposition drei klare Siege über die regierende Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (USAP) eingebracht. In zwei Wahlkreisen waren allerdings zwei Anläufe nötig: Dort waren beim ersten Wahlgang nicht die erforderlichen 50 Prozent der Wahlberechtigten zum Urnengang erschienen.

In diesen Nachwahlen einen Testlauf der für den nächsten Sommer anberaumten landesweiten Parlamentswahlen zu sehen wäre allerdings verfrüht. Und das nicht nur, weil eher Apathie und Desinteresse als Euphorie für die schließlich siegreiche Opposition dominierten. Noch stehen auch die politischen und rechtlichen Bedingungen nicht fest, unter denen die ersten freien Wahlen seit 42 Jahren stattfinden sollen. Noch haben auch nicht alle politischen Akteure die Bühne betreten und sich den Wählern vorgestellt.

Von den in den letzten Monaten wie Pilze aus dem Boden geschossenen Oppositionsgruppen und wiedergegründeten Altparteien stellten diesmal nur zwei Kandidaten auf: der Verband der Freien Demokraten, der sich einem reinen Wirtschaftsliberalismus verschrieben hat, und das Ungarische Demokratische Forum (UDF). Das UDF versteht sich als eine Partei der Mitte. In ihr sammeln sich christlich -demokratische, sozialliberale und populistische Strömungen. Ideologische Klammer ist der Bezug aufs „Ungartum“. Als einzige der Oppositionsgruppen verfügt sie über einen größeren Mitgliederstamm (15.000) und eine Infrastruktur, die ihr auch in den ländlichen Gebieten, wo acht der zehn Millionen Ungarn leben, eine Basis sichert.

Alles wartet auf den Parteitag

Doch nicht nur die Opposition braucht noch Zeit, um sich für die Wahlen zu formieren. Auch in der Kommunistischen Partei sind die Würfel noch nicht gefallen, zwischen den Reformern um Imre Pozsgay und den Stalinisten, die das Monopol der Partei auf keinen Fall aufgeben möchten. Erst auf dem für Oktober angesetzten außerordentlichen Parteitag wird sich entscheiden, welcher Flügel künftig den Ton angibt. Pozsgay, der seit Mai an der Spitze des Parteipräsidiums steht, kündigte jedenfalls nach der Wahlniederlage vom Wochenende neuen Druck an: Der Parteitag müsse über eine „drastische Umwandlung“ der Personalpolitik entschieden.

Im Falle eines Sieges der Reformer - der sich in Bezirksverbänden der Partei zaghaft andeutet - könnten die orthodoxen Altkommunisten sich abspalten und bei den Wahlen getrennt marschieren. Paradoxerweise liebäugeln gerade viele Reformer mit dieser Variante. Sie hoffen, durch einen Bruch mit den stalinistischen Genossen bei den Wählern an Glaubwürdigkeit zu gewinnen.

Gaben die Meinungsforscher den Kommunisten im April noch 35 Prozent, so liegen diese mittlerweile (nach den allerdings noch wenig verläßlichen Umfragen) bei nur 20 Prozent. Bei den Nachwahlen verzichtete die Partei sogar darauf, Kandidaten mit zugkräftigen Namen aufzustellen. In der Stadt Szeged unterstützte sie einen Parteilosen, doch auch der fiel durch.

Für den Ausgang der Parlamentswahlen wird vor allem entscheidend sein, wie das Wahlrecht verändert wird. Bei einem Mehrheitswahlrecht nach angelsächsischem Modell hätten die jungen Parteien kaum eine Chance. Dazu fehlen ihnen noch die geeigneten Kandidaten. Erfolg kann sich vor allem diejenige Partei versprechen, der es gelingt, die aus Desillusion gespeiste Apathie der Massen zu überwinden.

Mißtrauen gegen alle Politik

Das tiefsitzende Mißtrauen gegenüber den Kommunisten hat sich auf die Politik generell übertragen und macht auch vor der Opposition nicht halt. Der langjährige Parteichef Kadar hatte sich die Loyalität der Bevölkerung - und ihre Entpolitisierung - durch materielle Zugeständnisse mit Schecks erkauft, von denen sich heute herausgestellt, daß sie ungedeckt waren. Die wirtschaftliche Krise zieht immer breitere Kreise und wird zur Legitimationskrise.

Die Reformer innerhalb der USAP sind sich dieser Gefahr seit einiger Zeit bewußt. Sie waren es, die durch die Entmachtung der alten Elite und die Neubewertung der jüngeren ungarischen Geschichte, der Partei und der Gesellschaft eine Erneuerung „von oben“ verordnet haben eine Parallele zur Sowjetunion. Anders als in Polen, wo der Druck zur Veränderung von unten kam und wo Solidarnosc die Kommunisten unter Zugzwang setzte, fehlen der ungarischen Opposition dagegen die Massenbasis und eine Integrationsfigur.

In einer Art taktischer Versöhnungsgeste versucht die Reformfraktion der USAP nach dem Vorbild des runden Tisches in Polen die Opposition auf eine gemeinsame Marschroute einzuschwören. Doch bisher hat sie nur mäßigen Erfolg. Neben der USAP nahmen an dem „oppositionellen Rundtisch“ das Demokratische Forum, die Freidemokraten, die Sozialdemokraten, die Kleinlandwirtepartei, der Bauernverbund „Volkspartei“, der unabhängige Jugendverband FIDESZ („Junge Demokraten“) und Beobachter der Liga unabhängiger Gewerkschaften Platz. Zu ihnen gesellten sich noch Organisationen, die der Kommunistischen Partei nahestehen: der Zentralrat der Gewerkschaften, die Patriotische Front und der Jugendverband der Partei (DEMISZ).

Runder Tisch

vorläufig gescheitert

Die Verhandlungen scheiterten im Juli, und ein Kompromiß ist momentan nicht in Sicht. Der Forderung der USAP, noch vom jetzigen Parlament - das nicht aus freien Wahlen hervorgegangen ist - den Präsidenten wählen zu lassen, verweigerte sich die Opposition. Auch die Abstimmung über eine neue Verfassung und die Reorganisation des Verfassungsgerichtes wollte sie nicht mitmachen und begründete das mit der Machtbasis, die sich die Kommunisten auf längere Sicht damit sichern wollen. Streit entzündete sich auch an der Verwendung des Parteivermögens. Die Meinung der Opposition: Um faire Wahlen zu garantieren, solle das Geld in eine Stiftung überführt werden, die die Gelder an alle Wahlbeteiligten gleichmäßig verteilt. Da sich die Opposition kompromißlos zeigt, mehren sich auch in der Bevölkerung die Stimmen, die sie auffordern, den Weg in die Demokratie nicht zu verzögern.

Die Wähler allerdings werden wohl ihre Stimme weder vom Ausgang dieses Konflikts am runden Tisch noch vom Ergebnis des USAP-Parteitags im Oktober abhängig machen. Ihnen geht es um für sie spürbare Veränderungen. Und diese müssen in Ungarn materieller Art sein. Doch das einzige, was alle Parteien guten Gewissens versprechen können, ist, daß die Zeiten noch härter werden. Die Einführung der Marktwirtschaft gilt bei allen Beteiligten als beschlossene Sache. Die Unterschiede sind nur gradueller Art.

Der Thatcherismus

als Reformmodell

Selbst in den Reformerzirkeln der Partei gewinnt das Modell des Thatcherismus an Oberhand. Noch allerdings hinken die wirtschaftlichen den politischen Veränderungen hinterher. Entscheidende Umstrukturierungen in der Schwerindustrie etwa stehen noch aus. Mit Betriebsstillegungen und einem Hochschnellen der Arbeitslosenquote ist zu rechnen, werden sie einmal Wirklichkeit. Schon jetzt leben zwei Millionen Ungarn unter der Armutsgrenze.

Bisher haben die Arbeiter der Großbetriebe geschwiegen. Ihr Vertrauen genießt weder die Partei noch die Opposition. Sie werden sich an diejenigen halten, die ihre Arbeitsplätze sichern, und im Zweifelsfall bedeutet ihnen der Arbeitsplatz mehr als die Reform. Ein neues Gesetzespaket sieht vor, daß sie die staatlichen Großbetriebe in Kapitalgesellschaften umwandeln können. Doch der Schritt in die Marktwirtschaft öffnet zugleich auch ein Schlupfloch für die Machterhaltung der alten Eliten: Unrentable Betriebe könnten ihre Aktien gegenseitig aufkaufen und in den Aufsichtsräten sich untereinander stützen. Strukturreformen würden dann verhindert.

Eine gesetzliche Absicherung der veränderten Eigentumsstrukturen steht generell noch aus. Auch in dem Fall, daß eine von Grund auf reformierte USAP die Wahlen im kommenden Jahr gewinnt, haben die Ungarn nicht mehr zu erwarten als die Verheißung eines sozialdemokratischen Wohlfahrtsmodells für die ferne Zukunft. Um solche Träume umzusetzen, bedürfte es in jedem Fall riesiger finanzieller Mittel, die auf absehbare Zeit nicht zur Verfügung stehen.

Wie weit die Angst vor sozialen Unruhen reicht, signalisiert das in der letzten Woche von Ungarn an den Westen gerichtete Memorandum mit dem Tenor: Gebt uns Wirtschaftshilfe, wenn ihr das Wiedererstarken konservativer Kräfte verhindern wollt. Vom Westen unbeachtet, haben sich bei den Kommunisten schon die Hardliner in verschiedenen Zirkeln gesammelt. Denn profitieren werden von den gegenwärtigen Veränderungen vor allem Freischaffende, Ärzte, Handwerker und Unternehmer. Und noch ist die Hoffnung nicht aufgegangen, sie würden ihr Kapital jetzt in den produktiven Sektor des Landes investieren. Ihre monumentalen Palazzi im vornehmen Budapester Vorort Obuda künden schon seit längerem vom Ende der kommunistischen Ära.

Die ungarische Philosophin und ehemalige Lukacs-Schülerin Agnes Heller blickt jedenfalls mit Skepsis in die Zukunft. Sie mahnt die „Nachfolgestaaten“ des Stalinismus eindringlich davor, „sich nicht von ihren sozialen Verpflichtungen loszusagen und mit der Parodie einer minimalen Regierung herumzuspielen“. In oligarchischen Gesellschaften wie Ungarn, mit einer nur schwach ausgebildeten demokratischen Tradition, sei der „Sozialismus des Pöbels, diese schreckliche und gewalttätige Plage der modernen Welt, nie weit entfernt“.

Klaus-Helge Donath

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