: Verhärtete Fronten um DDR-Flüchtlinge
■ Zum ersten Mal Appell der Bundesregierung an DDR-Bürger, drüben zu bleiben / 131 DDR-Bürger in der Ständigen Vertretung / DDR-Anwalt Vogel bekam von Honecker kein Verhandlungsmandat über Ausreise
Berlin (dpa/ap/taz) - Einen Tag nach Schließung der Ständigen Vertretung der BRD in Ost-Berlin ist das Schicksal der 131 Flüchtlinge, die sich dort seit dem Wochenende aufhalten, um ihre Ausreise zu forcieren, immer noch ungeklärt. Nach einer außerplanmäßigen Kabinettssitzung teilte der Kanzleramtsminister Rudolf Seiters in Bonn mit, die Bundesregierung tue alles, um eine Lösung des Problems zu erreichen. „Die Möglichkeiten dazu sind jedoch begrenzt“. Die DDR reagierte mit außerordentlicher Schärfe auf Stellungnahmen bundesdeutscher Politiker.
Bereits Montag abend soll sich nach Aussagen des Staatssekretärs im Innerdeutschen Ministerium, Walter Priesnitz, DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker um die Vorgänge in der Ständigen Vertretung persönlich eingeschaltet haben. Demnach erhielt der Unterhändler in diesen Fragen, Rechtsanwalt Vogel, von Honecker die Anweisung, daß er „keinen echten Verhandlungsspielraum mehr habe“. Seiters betonte, die Gespräche mit der DDR liefen nicht mehr nur auf der „üblichen Ebene“ zwischen dem Staatssekretär im Innerdeutschen Ministerium und Rechtsanwalt Vogel. Mittlerweile gäbe es auch „Kontakte auf politischer Ebene“. Seiters führte dies jedoch nicht weiter aus. Bundeskanzler Kohl lasse sich in seinem Urlaubsort ständig unterrichten, bisher habe er sich aber noch nicht persönlich eingeschaltet. Zum erstenmal wandte sich die Bundesregierung gestern mit einem Appell an alle Bewohner der DDR, nicht mehr durch Botschaftsbesetzungen den Versuch zu unternehmen, die Ausreise zu erzwingen, „weil dies mehr Probleme schafft als löst“.
Auch in Berlin warnte der Chef der Berliner Staatskanzlei, Professor Dieter Schröder, DDR-Bürger vor einer Torschlußpanik. Dafür gebe es keinen Anlaß. Die Diskussion im Westen über Probleme für Aus- und Übersiedler sei in der DDR als Signal mißverstanden worden, der Westen könnte in Zukunft die Übersiedlung erschweren. Bevor DDR-Bürger aus Torschlußpanik unumkehrbare Entscheidungen zum Verlassen der DDR treffen, sollten sie überlegen, daß die Entwicklungen in der Sowjetunion über längere Zeit auch keinen Bogen um die DDR machen könnten. Der Sprecher der Ständigen Vertretung bezeichnete die Lage als „weiter schwierig und beklemmend“. Die Stimmung unter den Flüchtlingen sei verhältnismäßig gut. Entschieden widersprach Seiters kritischen Berichten über ein fehlendes Krisenmanagement in der Regierung.
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