Schwelbrand, Stille und Gesang

Das Amsterdamer „NL Centrum“ zeigt im Rahmen des niederländischen Theater-Sommerfestivals ihr Insel-Projekt „De Annexatie“  ■  Vor Pampus liegen

„To whom it may belong“ steht auf der Einladungskarte. Der Briefkopf zeigt eine Grafik, einer abstrakten Schweinsnase in Frontalansicht nicht unähnlich. Darunter die kargen Informationen: Eine Insel vor der Küste von Amsterdam soll annektiert werden. Eine Gruppe von Künstlern, die bis zur Premiere anonym bleiben, hat das Eiland besetzt und umgebaut. Nur eine sehr begrenzte Zahl von zweihundert Personen hat die einmalige Gelegenheit, an dem Ereignis teilzuhaben. Vor Ort unterschreibt man auf einer zweiteiligen Eintrittskarte, bei etwaigen psychischen oder physischen Schäden in Folge des Besuchs der Veranstaltung keine Regreßansprüche geltend zu machen.

Die Deportation nimmt ihren Verlauf: Gegen 21.00 Uhr versammeln sich die Theaterfreunde auf einem schrottreifen Autoanhänger vor der Tür von „Frau Holle“, dem Festivalzentrum. Anderthalb Stunden später kommen die Busse, die uns zum Hafen bringen. Wieder warten: Die Türen klemmen. Im Dunkel eines verödeten Anlegers dümpelt ein dürftig geputzter Kohlenkahn. Ein schmales Brett dient als Zugang. Eine nachtblinde Ameisenkarawane hangelt an der Bordwand ohne Reling entlang bis zur Luke, steigt hinab. Als Aperitif: ein Glas Wasser. Die Gäste äugen skeptisch in ihre Becher. Schwimmt da nicht etwas Gelbliches?

Stewardessen in schwarzen Gewändern reichen lose Tabletten auf Tellern. Gegen Seekrankheit! Der Rauschmittelverdacht ist schnell geäußert: Reisepillen ohne Verpackung...

Pampus heißt die Insel, zu der wir fahren, erzählt ein Nachbar, eine Festungsanlage aus dem 16.Jahrhundert. Auf Pampus wurden die Zollpapiere ausgestellt für alle Händler und Reisende per Schiff nach Amsterdam. Jeder mußte dort, weit vor der Stadt, erstmals Station machen. „Vor Pampus liegen“ sei noch heute eine gängige Redensart. Und als ein schwerer Gegenstand an die Bordwand schlägt, ergänzt er: Rund um die Insel seien im letzten Weltkrieg Betonsockel ins Meer gegossen worden bis knapp unter den Wasserspiegel. Keiner, der sich im Labyrinth nicht auskennt, kommt ohne Leck auch nur an die Nähe dieser absurden Verteidigungsanlage.

Dann legt ein Boot ab, und die Teilnehmer der Expedition krabbeln unter dem Gebrumm riesiger Generatoren den Hang hinauf zum ersten Festungsring, die Arme vor den Augen, der Quelle eines gleißenden Lichts entgegen. Death Valley?

Die Initiation ist - gewollt oder ungewollt - extrem widerlich: Ein Künstler mit weißen Handschuhen schreitet auf einen Fahnenmast zu und hißt die niederländische Nationalflagge.

Ein langgezogener Todesschrei dringt aus dem inneren Zirkel der Festung, zu der man über einen Kriechgang etwa fünf Meter tiefer gelangt. Die Menge verteilt sich in dem Gewölbe.

Der Schrei wiederholt sich, wird die weiteren sechs Stunden lang die Phrasen und Samples von „Sovietfrance“ skandieren, das Nervensystem pfählen. Die Experimentalmusiker sitzen, vom Publikum abgeschotttet, in einem Zentralraum an riesigen Mischpulten und verstreuen ihre Collagen über eine Unzahl von Boxen im gesamten Gebäudekomplex. Mal vibrieren die Wände, mal gefriert das Blut in den Adern. Ihre Kompositionen sind keinen Augenblick gleichförmig, sie schaffen es sogar, gegen Morgen in die allgemein paralysierte Stimmung hinein Aktente zu setzen, die Nacht einer Klimax entgegenzuführen.

Alle anderen Installationen, Aktionen, sind statische oder genauer: um sich selbst kreiselnde Einrichtungen.

Eine schreibende Frau sitzt hinter einem Bretterverschlag an einem Tisch, umgeben von kitschigem und obskurem Nippes.

In einem Bombentrichter schwelen Berge von Sägemehl und wölben ein Tuch, das den Krater nach oben hin abschließt. Der Künstler, von einer Gasmaske geschützt, führt die Besucher in kleinen Gruppen durch das qualmende Inferno.

Ein umgebauter Kleintraktor fährt permanent seine Runden in einem mannsbreiten Ringgang - ein mechanischer Reiseführer mit einer Lampe an der Rückseite, die en passant flackerndes Licht auf Wandbilder wirft, Graffito-Notizen beleuchtet wie: „Ghost Town, Death Valley, Manson Memorial“. Wer dem von Brettern und den Wänden gelenkten Trecker als erster folgt, steht nach zehnminütigem Kurs am Rande einer Kohlenmonoxidvergiftung.

In einem Wasserbecken zischeln Flammen, verpuffen Gase ein Tarkowskij-Ambiente, gemischt mit dem unheilvollen Geruch von Vernichtungskammern.

Fahnen werden geschwenkt, ein Chor müht sich über Leitern auf eine Anhöhe und intoniert etwas unsicher Passagen, die an Gesualdo, teils auch an Dada-Poesie gemahnen.

Die wesentliche Erfahrung ist jetzt, sagen wir gegen zwei Uhr früh, längst nicht mehr die des Betrachters gegenüber einem Kunstobjekt. Nach etwa einer Stunde schon kann man sich ausreichend orientieren in dem Gewirr von Schächten, Gängen, Gruften. Man hat alles gesehen, weiß, daß es nichts zu essen, keinen Alkohol zu trinken gibt. Der Rückweg zum Boot ist vernagelt. Leicht berauscht von Benzindämpfen, Rauch und Dunkelheit und von einigen mitgebrachten Betäubungsmitteln taumeln die 200 Personen zwischen Zeitzeichen für „Gefahr“, „Sammeln“ und „Vorwärtsgehen“ hin und her. Eine soziale Großplastik, an der die Kunst den geringsten Anteil hat.

Kurz vor Sonnenaufgang klettert das durchgefrorene Publikum mit rußigen Gesichtern zurück auf den Außenrand, ein Hund bellt. Vor ihnen die Insel: zwei Ringe und darin zwei Löcher: das Zeichen auf der Karte!

Um halb acht setzt das Fährboot die Überlebenden und Halbschläfer am Anleger in der Nähe einer Schnellstraße ab. Von einem Bus keine Spur.