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Sexueller Mißbrauch: Streit über Diagnosemethode

In den Niederlanden sorgt die „Puppen-Methode“ für Schlagzeilen / Die Beobachtung von Kindern im Spiel mit naturgetreuen Puppen läßt Rückschlüsse auf sexuellen Mißbrauch zu / Rechtfertigt die Methode jedoch, Kinder ohne Einwilligung unter Fürsorge zu stellen? / Wie stichhaltig ist diese Diagnosetechnik?  ■  Von Henk Raijer

Wie die herkömmliche Puppenfamilie eines durchschnittlichen Kinderzimmers sieht sie nicht gerade aus, die Versammlung lebensgroßer Stoffpuppen der Sondertagesstätte „De Bolderkar“ (Bollerwagen) im niederländischen Vlaardingen. Von den Barbies und Kens in ihren modischen Gewändern unterscheiden sich die acht Mitglieder dieser Puppenfamilie dadurch, daß ihre Schöpferin sie mit allen wesentlichen geschlechtsspezifischen und altersbedingten Merkmalen ausgestattet hat: So haben Mutter und Oma Brüste mit kunstvoll in rot applizierten Warzen - Mutters Brüste geringfügig fester als Omas -, Vater und Opa sind mit Hoden und einem großen aufgerichteten Penis ausgestattet - Vaters geringfügig steifer als Opas. Sogar die Schamhaare wurden dem jeweiligen Alter entsprechend verteilt.

Seit die Puppenmacherin Jean van Heerbeek im Auftrag des „Nationalen Koordinationszentrum Inzest“ vergangenes Jahr mit der Fertigung der Puppen begann, hat sie weit über hundert Stück verkauft: Erwachsene und Kinder zu 100, Babys zu 50 und Schwangere mit ausklappbarem Neugeborenen an Nabelschnur zu 150 Gulden.

Was verbirgt sich hinter diesen Puppen, die nicht als Spielzeug für unbeschwerte Kinder konzipiert wurden? Neben er sexuellen Aufklärung von Kindern und geistig Behinderten finden die „anatomisch korrekten Puppen“, wie sie in der niederländischen Öffentlichkeit genannt werden, Verwendung bei Untersuchungen, ob Kinder an bestimmte, für ihr Alter ungewöhnliche Sexualpraktiken gewöhnt sind. Darüber erhofft man sich Aufschluß über einen möglichen sexuellen Mißbrauch. Dank originalgetreuer Anatomie sind alle denkbaren sexuellen Handlungen zwischen den Puppen durchführbar. Umstrittene Methode

Im Dezember vergangenen Jahres wurden auf richterliche Anordnung zehn Kinder im Durchschnittsalter von vier Jahren ohne vorherige Rücksprache mit den Eltern an einem unbekannten Ort unter Fürsorge gestellt. Das brachte die „Puppen-Methode“ in die Schlagzeilen. Denn Mitarbeiter der Tagesstätte „De Bolderkar“ hatten bei 14 von 50 Kindern, die von Ärzten und Behörden zu ihnen zur Beobachtung geschickt worden waren, ihren Verdacht auf Inzest bestätigt gefunden. Bei der Feststellung hatte in allen Fällen die „Puppen -Methode“ den Ausschlag gegeben.

Die Methode kommt aus den USA und bildet neben anderen Diagnosetechniken eine Möglichkeit, einen bestehenden Inzest -Verdacht zu überprüfen. 52 physische und psychosomatische „Signale“ lassen bei Familienhelfern und Psychologen die Alarmglocken läuten: Blaue Flecken, Blutungen, ungewöhnliche Erweiterungen von After und Vagina, nicht-altersgemäße Beschäftigung mit und Kenntnis von Sexualität, plötzliche Heulkrämpfe, Schlafstörungen, Nahrungsverweigerung und Angst vor ärztlichen Untersuchungen sind nur einige der Indikatoren, die Experten dazu veranlassen, ihren Verdacht durch intensive Verhaltensobservation und medizinische Testreihen zu erhärten. Eindeutige Signale, die ein Kind aussenden muß, gibt es nicht. Und genau diese Gefahr der subjektiven und selektiven Wahrnehmung hat der „Puppen -Methode“ Kritik eingetragen.

Nach Veröffentlichung der Studie der Psychologin Nel Draijer - danach wurden circa 34 Prozent der Frauen zwischen 20 und 40 Jahren in ihrer Kindheit von Vater, Bruder, Großvater oder Onkel sexuell mißbraucht - war in den niederländischen Medien die letzten Monate geradezu eine „Inzest-Hysterie“ ausgebrochen. Im Fernsehen wurde hitzig über Pädophilie debattiert, Hunderte von Opfern schilderten öffentlich ihr Erlebnisse. Schließlich fand sogar ein Fernsehtribunal mit Opfern und Tätern statt, in dem Eltern und andere Täter nach jahrelanger Therapie den Mut fanden, sich zu dem Mißbrauch an Kindern zu bekennen. Seitdem die „Bolderkar„-Kinder in Verwahr genommen wurden, wird nun heftig über die Puppen-Methode diskutiert. Der Psychologe P. Drenth, Professor für Psychometrie in Amsterdam, äußerte Bedenken zu der wissenschaftlichen Stichhaltigkeit der Methode. Rechtfertigt sie tatsächlich einen so entscheidenden Schritt, Kinder ohne Einwilligung der Eltern in Fürsorge zu nehmen? Zwei Elterpaare haben im Falle der zehn „Bolderkar„-Kinder von Vlaardingen Rechtsmittel eingelegt - mit der Begründung, der Tatbestand sei nach wie vor vermutet, aber nicht bewiesen. Bis ihr Fall zur Verhandlung kommt, werden Monate vergehen. Die radikalfeministische Monatsschrift 'Opzij‘ (Aus dem Weg) vertritt die Auffassung, daß durch die Hexenjagd auf Inzest -Eltern nur Angst erzeugt wird. Durch Praktiken wie im „Bolderkar“ würden Kinder zur Illoyalität ihren Eltern gegenüber angehalten.

Die Sozialarbeit verfügt in den Niederlanden über außerordentlichen Einfluß und Prestige. Wer zweifelt schon daran, daß Psychologen, Therapeuten und Jugendrichter mit den Kindern nur das Beste vorhaben. In den Augen derer, die an der Beweiskraft des Puppenspiels zumindest starke Zweifel haben, verkommt die Arbeit der Befürworter zum Terror der guten Absichten.

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