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Quittung für den langen Schlaf

■ Weder zur Kriegsdrohung noch zu Verhandlungen bringen Alliierte die Konsequenz auf, um den sowjetischen Rechtsbruch zu verhindern, statt dessen herrscht vollständige Ratlosigkeit

Berlin ist kein isolierter Fall, Berlin geht uns alle an. Wenn wir hier versagen, dann geschieht es uns recht, wenn auch wir uns eines Tages innerhalb und nicht mehr außerhalb jenes KZs befinden, das an diesem 13. August mit Stacheldraht seine letzten Ausgänge verbarrikadiert hat.

Besonders verwunderlich allerdings wäre dies gewiß nicht. Die Politik der letzten Wochen und Monate ist schlechterdings unverständlich. Zunächst war doch die Antwort auf Chruschtschows Drohungen mit dem Separatfrieden: „Verhandlungen kommen nicht in Frage.“ Dann hielt Kennedy jene glänzende Rede, in der er ganz deutlich machte, worauf es ankommt, nämlich darauf, zweigleisig zu fahren; vermehrt zu rüsten und gleichzeitig zu verhandeln. Es folgte die Pariser Außenministerkonferenz, die diese Richtlinien im Detail ausarbeiten wollte.

Ihr Ergebnis: Ein Katalog militärischer und wirtschaftspolitischer Maßnahmen und nebenbei gewisse Andeutungen, wenn Chruschtschow schön brav sei und sich ganz gesittet benähme, werde man vielleicht einmal - noch könne man nicht sagen, wann - mit ihm reden. Ob dieses angesichts der Kennedy-Rede und ihrer Richtlinien wirklich kuriose Ergebnis durch Bonner und Pariser Wünsche beeinflußt wurde oder ob es, wie die Dementis aus beiden Städten behaupten, dem Wunsch aller vier Teilnehmer entsprach, ist schwer festzustellen.

Verwunderlich freilich wäre es nicht, wenn sich das Gerücht bestätigte, Washington und London hätten einen festen Termin nennen wollen, doch hätten de Gaulle und Adenauer sich widersetzt. Das Weltbild jener beiden alten Herren, das vom 19. Jahrhundert geprägt wurde, mag ihnen die Vorstellung eingeben, es sei ihr erstgeborenes und angestammtes Recht, zu bestimmen, wann Gespräche mit dem mächtigen Emporkömmling stattfinden: natürlich nur als Belohnung, nicht unter Druck! De Gaulle hielt es ja auch jahrelang für unter seiner Würde, mit Bourgiba oder dem FLN zu verhandeln.

Komisch ist allerdings - doch dies nur nebenbei: Wenn wir gerade mal nicht unter Druck stehen (wie zum Beispiel damals, als die 'Zeit‘ vorschlug, ganz Berlin zum Sitz der UN zu machen), wird auch nicht verhandelt, „weil ja gar keine Veranlassung dazu besteht“.

Die Außenminister waren also übereingekommen, „äußerste Entschlossenheit“ zu zeigen. Chruschtschow will keinen Krieg, so hieß es, und wenn wir ihm klar machen, daß wir vor nichts zurückscheuen, dann wird er es nicht wagen, irgendwelche Verletzungen zu begehen. Das ist eine Politik, die unter bestimmten Umständen, und folgerichtig vertreten, durchaus Sinn haben kann. Sie wird aber gänzlich unsinnig, wenn schon zwei Tage später Kennedy, Rusk und auch Adenauer, jeder vor seinem entsprechenden Publikum, munter darüber plaudern, daß man sich demnächst mit dem Sowjet-Chef zu Verhandlungen zusammensetzen werde. Was die Bereitschaft zu militärischen Maßnahmen anbetrifft, so sagte Adenauer: „Es ist müßig, zur Zeit von einer Verlängerung der Wehrpflicht und von einer Einberufung von Reservisten in der Bundesrepublik zu sprechen.“ Also weder das eine noch das andere? Für beide Alternativen bringt man keinerlei Konsequenz auf: Die Kriegsdrohung, von vielen, nicht zuletzt von Strauß als Allheilmittel gepriesen, ist einfach eine unglaubwürdige Abschreckung und darum nichts wert. (Zumal man nie wirklich eine Politik der Stärke getrieben hat.) Und Verhandlungsangebote, die genau darum um so wichtiger wären, sind nur dann etwas wert, wenn sie präzise mit Terminangaben ausgesprochen werden.

Aber so? So hat Chruschtschow sich entschlossen, das Risiko zu laufen und das Kernstück aus dem Separatfriedensvertrag vorwegzunehmen. Und siehe da, außer wortreichen Protesten und gewissen wirtschaftlichen Drohungen passierte nichts. „Ja, wenn ich gewußt hätte, daß das so leicht ist...“, mag er heute denken.

Man fragt sich wirklich, wozu eigentlich die vielen westlichen Beratungen - bei denen, wie zuletzt in Paris, weit über 100 Sachverständige zusammenkamen -, wozu sie eigentlich dienten, wenn nicht dazu, einen Katalog automatischer Reaktionen auf sowjetische Verletzungen aufzustellen. Seit Monaten hat Chruschtschow angekündigt, daß er den Vier-Mächte-Status außer Kraft setzen werde, und jetzt, nachdem er es getan hat, fangen die westlichen Alliierten an zu beraten, wie man diesen Rechtsbruch beantworten soll. Offenbar sind sie ganz verloren, wenn der Gegner nicht alles genau so macht, wie sie sich das vorgestellt haben. Wenn er mit Punkt 3 beginnt statt mit Punkt 1, dann ergreift sie vollständige Ratlosigkeit.

Maria Gräfin Dönhoff ('Zeit‘, 18.8.1961)

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