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Fluchtbewegung nicht anreizen

■ Vertreter der Bundesregierung nehmen vor der Bonner Presse Stellung zu der bedrohlichen Flüchtlingssituation / Zahlen der Bevölkerungsnachrücker aus Ostländern bereiten Sorge / „Bevölkerung in der Zone besteht zum großen Teil aus potentiellen Flüchtlingen“

Bundesminister Lemmer: Die Flüchtlingsbewegung ist für die Bundesregierung Gegenstand ernster Beunruhigung. Es steht außer Zweifel, daß wir an einer Steigerung dieser Flüchtlingsbewegung in keiner Weise interessiert sind, sondern daß sie uns Sorge bereitet. Niemals ist von unserer Seite eine sogenannte Abwerbung betrieben worden. Ich habe mindestens alle sechs Wochen an die Bevölkerung in der Zone Mahnungen gerichtet, doch nach Möglichkeit zu bleiben, nicht zu uns zu kommen, weil der menschliche Substanzschwund der Bevölkerung in Mitteldeutschland von uns nur mit großer Besorgnis beobachtet werden kann. Wenn trotz unserer Ermahnungen die Fluchtbewegung einen solchen Umfang angenommen hat, dann liegt das an den inneren Verhältnissen im Machtbereich der deutschen Kommunisten. Außerdem liegt es an der politischen Entwicklung der letzten Monate, die bekanntlich in steigendem Maße Drohungen gegen die Existenz des freiheitlichen Teiles unserer Hauptstadt gebracht hat, Drohungen mit der Kontrolle der Verbindungswege zwischen West-Berlin und dem Westen. Ich kann nur feststellen, daß dieser verstärkte Nervenkrieg des Ostens gegen West-Berlin und uns dazu beigetragen hat, die Flüchtlingsbewegung ansteigen zu lassen. Es ist sicherlich einer der Gründe, daß die Bevölkerung in der Zone, die zum großen Teil aus potentiellen Flüchtlingen besteht, angesichts der Verhältnisse in der Zone, unter denen sie zu leben gezwungen sind, in der Sorge vor einem möglichen Torschluß am Fluchtweg West-Berlin sich in diesen Sommermonaten in so großer Zahl auf und davon gemacht haben. Wir haben bis Mitte Juli 15.000 Flüchtlinge registriert; ich befürchte, wir werden am Ende dieses Monats nicht weit von 30.000 entfernt sein. Sie offenbaren die innere Unruhe, in der die Bevölkerung in der Zone lebt. Sie ist enttäuscht, daß ihre Versorgungslage - um mich vorsichtig auszudrücken stagniert, auf keinen Fall sich gehoben hat, obwohl von Herrn Ulbricht vor Jahren ein Leistungsplan verkündet worden ist, demzufolge der Lebensstandard in der Bundesrepublik im Jahre 1961 übertroffen werden sollte. Hinzu kommt, daß die Bevölkerung in der Zone angesichts der beunruhigenden internationalen Entwicklung, der weltpolitischen Entwicklung, in ihrer Hoffnungslosigkeit befürchtet, daß sie gezwungen sein könnte, unter Verhältnissen auf unabsehbare Zeit weiterzuleben, die sie innerlich ablehnt.

Was wird getan oder kann getan werden, um die jetzt ankommenden SBZ-Flüchtlinge so schnell wie möglich in das Arbeitsleben in der Bundesrepublik einzugliedern?

Bundesminister v. Merkatz: Die Eingliederung in das Arbeitsleben macht bei der Hochkonjunktur, die wir haben, keine nennenswerte Schwierigkeit, zumal die Jahrgänge, die jetzt herüberkommen, in einem ziemlich hohen Prozentsatz herüberkommen, ausgesprochen arbeitsfähige und gute Kräfte sind.

Wie ist es mit der Wohnungsversorgung der Flüchtlinge?

Bundesminister v. Merkatz: Natürlich stellt diese Flüchtlingsbewegung an die schnelle Wohnungsversorgung besondere Ansprüche. Hinsichtlich der Wohnungsbaumittel habenwir eine Automatik, die sich nach den Flüchtlingszahlen richtet, so daß da neue Maßnahmen nicht getroffen zu werden brauchen.

Herr Minister Lemmer, kann man angesichts der Situation in der Zone auf die Dauer eigentlich verantworten, die Menschen drüben zum Bleiben aufzufordern? Liefert man sie nicht damit zwangsläufig der Willkür aus?

Minister Lemmer: Diese Frage ist sehr ernst, und ich beschäftige mich seit längerer Zeit damit. Aber ich bin bisher zu dem Schluß gekommen, daß von der Bundesregierung und von der Bundesrepublik her nichts getan werden darf, um die Fluchtbewegung anzureizen. Ich befürchte - wenn wir bedenken, daß jetzt schon ungefähr jeder fünfte Bewohner der Zone im Laufe der Jahre zu uns gekommen ist -, daß der Bevölkerungsrückgang solch katastrophale Formen annehmen könnte, daß unter Umständen ein Bevölkerungsnachschub aus Ostländern in unseren mitteldeutschen Raum die Folge sein könnte.

Herr Minister, glauben Sie, daß die Fluchtbewegung im August noch so bleibt oder daß sie mit dem Ablauf der Ferien wieder zurückgeht?

Minister Lemmer: Ich fürchte, diese Fluchtbewegung wird anhalten. Sie hält an, solange die Lebensverhältnisse unerträglich empfunden werden und solange durch den Nervenkrieg diese potentiellen Flüchtlinge befürchten müssen, daß eines Tages ihnen der Fluchtweg in die Freiheit versperrt sein könnte.

Protokoll des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 21.Juli '61

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